Wer macht das Rennen in Wahlumfragen?

Fünf Steckenpferde als Kinderspielzeug

Wer gewinnt das mediale horse-race der Wahlumfragen? Foto:123rf

„Europawahlen 2024: Rechte in neuer Umfrage auf Rekordhoch“ titelte das Nachrichtenportal Euractiv noch im November 2023. Im März sah eine Euronews-Umfrage die pro-europäischen Parteien klar vorne. Laut neuester Umfragen verliert die AfD aktuell in der Wählergunst, seit die Verbindungen zweier ihrer Topkandidaten zu Russland und China bekannt wurden. Es bleibt spannend. Ergebnisse von Wahlumfragen werden wie ein Pferderennen präsentiert: „Wer hat die Nase vorn?“ Das birgt die Gefahr, dass die Inhalte von Parteiprogrammen in den Hintergrund geraten.

Journalismusprofessor Tanjev Schultz kritisierte bereits vor fünf Jahren, dass „der ständige Blick auf die Umfragewerte, der medial inszenierte Wettkampf als ‚horse race‘ und das Spekulieren über die Taktik – analog zur Sportberichterstattung – die Debatten über Inhalte in den Hintergrund drängen“ könne. Das scheint auch heute noch so zu sein – wie aus einer Analyse hervorgeht, die der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages (WD) im März 2023 vorlegte. Dort heißt es, die Wahlkampfberichterstattung der Medien werde von Umfragen und Prognosen dominiert, die insbesondere in der Endphase durch einen „Horse Race Frame“ geprägt seien, wenn „das Publikum sich eher für Zustimmungswerte der Parteien und ihrer Spitzenkandidaten interessiere als für die „anstrengenden, zumeist wenig unterhaltsamen Diskussionen über politische Sachfragen“. Da wundere es nicht, „dass die seit den 1950er-Jahren stetig gewachsene Zahl an Wahlumfragen wesentlich der Logik der medialen Berichterstattung zu verdanken ist und Medien zu den Institutionen gehören, die am häufigsten entsprechende Umfragen in Auftrag geben“.

Mehr Aufmerksamkeit für Sensationsjournalismus

So hat BILD beispielsweise bereits 2023 eine erste Umfrage zur Europawahl beim Meinungsforschungsinstut INSA in Auftrag gegeben. Für einen „Horse Race- Journalismus“, der mehr Aufmerksamkeit verspricht, seien Umfragen mit ihrem hohen Nachrichtenwert ideal, weil man an ihnen genau ablesen könne, wie groß der Vorsprung des Führenden gerade sei, so Thorsten Faas, Wahlforscher an der FU Berlin. Doch diese „spielerisch-unterhaltsame Art der Berichterstattung bietet weniger Platz für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Parteien, Politikern und möglichen Koalitionsmodellen“, kritisierte er bereits 2017: „Das ist dann so ein zynischer Blick auf das Ganze, weil es nur noch um die Frage geht: Wer gewinnt am Ende?“

Die Autor*innen der WD-Analyse konstatieren, theoretische Überlegungen und empirische Befunde der Wahlforschung legten nahe, dass „sich die Publikation von Wahlumfragen zumindest in einem begrenzten Umfang auf das Wahlverhalten auswirkt.“ So komme es zu einem „Mobilisierungseffekt“, wenn „Umfragen und Medienberichterstattung einen besonders knappen Wahlausgang vermuten lassen“. Viele Menschen neigten dann dazu, die Partei mit den größten Gewinnchancen zu wählen, um später auf der Siegerseite zu stehen („Bandwagon-Effekt“). Das durch Umfragen vermittelte Meinungs- und Stimmungsbild in der Bevölkerung beeinflusse wiederum die Wahlkampagnen und -strategien der Parteien, die ihre Themenauswahl oder die Images ihrer Kandidat*innen daraufhin veränderten.

Bessere Qualität statt Verbot

In einigen europäischen Ländern wie Frankreich, Spanien, Griechenland oder Italien gibt es eine mehrtägige oder sogar wochenlange Sperrfrist für die Berichterstattung über Wahlumfragen, um die Entscheidungsfindung der Bürger*innen nicht zu beeinflussen. In Deutschland ist nur verboten, Ergebnisse von Wählerbefragungen am Wahltag zu veröffentlichen. Der Stuttgarter Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider hält ein Berichterstattungsverbot im Vorfeld des Wahltages nicht für gerechtfertigt: „Müsste man dann nach der gleichen Denkweise nicht auch Facebook, Twitter und Co. vor Wahlen verbieten?“ Schließlich beeinflussten alle verfügbaren Medien die Meinungsbildung der Wähler*innen. Stattdessen sollten Journalist*innen „mehr auf die Qualität der Umfragedaten achten.“

Brettschneider hatte 2017 mit seinem Team eine Studie zu Wahlumfragen in den Massenmedien veröffentlicht, nach der das jeweilige Umfrageinstitut zwar in fast allen Medienbeiträgen erwähnt wird, aber nur selten die statistische Fehlerspanne und die Art der Befragung – telefonisch, Face-to-Face, online. Inzwischen scheinen Medien da sensibler und transparenter zu sein. So merkt die „Frankfurter Rundschau“ in einem Beitrag zur Europawahl an: “Die Forschungsgruppe Wahlen befragte vom 9. bis 11. April insgesamt 1254 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte telefonisch und online. Die mögliche Fehlerquote liegt bei circa zwei bis drei Prozentpunkten.“

Umfragen sind keine Prognosen

Das Netzwerk Recherche (nr) hat 2017 eine Checkliste für Journalist*innen veröffentlicht – mit Hinweisen für die Berichterstattung über Wahlumfragen. Unter „Umfrageergebnisse geben eine Spanne an, keinen Punkt“ wird etwa problematisiert, dass die errechneten Umfragewerte wegen der statistischen Fehlerquote leicht höher oder tiefer liegen könnten. Katharina Brunner von der Süddeutschen Zeitung rät deshalb, sich Vergleichswerte auf wahlrecht.de anzuschauen und die Umfrageergebnisse nicht mit Strichen, sondern Balken zu visualisieren. Wie groß die Spanne der Umfragewerte sein kann, zeigt eine aktuelle Übersicht zur Europawahl-„Sonntagsfrage“ auf dem Wahlrecht-Portal.

Wichtig sei es auch, dass Umfragen keine Prognosen für Wahlergebnisse sind, sondern nur ein aktuelles „Stimmungsbild“ nachzeichnen. Sie könnten – besonders kurz vor der Wahl – gefährlich sein. Etwa wenn Wähler*innen „wegen der letzten Umfragen strategisch wählen und die Wahl ganz anders ausgeht, als die Umfragen vermutet haben“, heißt es in der nr-Checkliste. Offenbar hatten die  Fehlprognosen vieler Medien vor dem Brexit-Referendum und der US-Präsidentschaftswahl 2016 zu etwas mehr Selbstkritik und Sensibilität in der Umfragenberichterstattung geführt, konstatierte Hanna Lohoff zwei Jahre später in der taz.

Begrenzte Bedeutung von Umfragen

Doch die Wirkung von Umfragen ist begrenzt, weil sie nur einen Teil der Wahlberichterstattung ausmachen. Nach der Stuttgarter Studie von 2017 verwenden gut zwei Drittel der befragten Journalist*innen der Bundespressekonferenz Umfrageergebnisse „manchmal oder häufig als Grundlage für ihre Berichterstattung“. Die Zahl der veröffentlichten Umfrage-Beiträge sei 12 Wochen vor der Wahl in FAZ, FR, SZ und Welt bis 2002 kontinuierlich gestiegen und dann wieder rückläufig gewesen.

Ein anderes Bild vermittelt die Presseberichterstattung über die Europawahl 2019, die von den Medienforscher*innen Jürgen Wilke und Melanie Leidecker-Sandmann analysiert wurde. Danach sind Umfrageergebnisse in den gleichen überregionalen Zeitungen FR, SZ, FAZ und Welt „sogar nur in fünf von 319 Artikeln Anlass für die Berichterstattung“, erläutert Leidecker-Sandmann gegenüber M. Am Beispiel der Berichterstattung über den Bundestagswahlkampf 2021 verdeutlicht sie, wie sehr sich die Bedeutung von Umfragen relativiert, vergleicht man sie mit anderen Themen. Umwelt, Außenpolitik, Wirtschaft/Finanzen und Parteipolitik werden häufiger thematisiert. Seit 1949 steht der Wahlkampf selbst aber im Zentrum der Berichterstattung, 2021 sogar in 54 Prozent der analysierten Artikel.

Umfrageberichte werden folglich seriöser. Der Horse-Race-Journalismus bleibt jedoch bestehen. Denn auch bei der Inszenierung von Wahlkampf, etwa in TV-Duellen geht es um den Sieg nach Punkten: “Wer hat die Nase vorn?“

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