Das Gehirn hat keine Löschtaste

Pointiertes Gespräch auf den Medientagen Mitteldeutschland (v.l.n.r.): Neurowissenschaftlerin Maren Urner, Jochen Bittner (Die Zeit), Moderatorin Silke Burmester, Kirsten von Hutten (Deutscher Presserat) und MDR-Programmchef Klaus Brinkbäumer Foto: Daniel Reiche

Was können Medienschaffende tun, um das Problem der „False Balance“ zu überwinden, so lautete die spannende Frage einer Podiumsdiskussion auf den Medientagen Mitteldeutschland Anfang Juni in Leipzig. „Ist das journalistische Kind der Ausgewogenheit in den Brunnen gefallen?“, fragte Journalistin Silke Burmester in die Runde und führte durch ein pointiertes Gespräch mit zwei sehr unterschiedlichen Haltungen.

Die Trennlinie war am Schärfsten zwischen Neurowissenschaftlerin Maren Urner und „Zeit“-Streit-Chef Jochen Bittner. Bittner stellte schon zu Beginn fest, dass er das Problem der „False Balance“ nicht wirklich erkennen könne und eher eine „zunehmende Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen“ sowie eine zunehmende Angst vor Diskursen sieht. Urner führte hingegen immer wieder auf kognitionswissenschaftliche Fakten zurück: „Sobald eine Information gesendet ist, verarbeitetet sie unser Gehirn. Wir haben keine Löschtaste.“ Und das verändere unser Weltbild und unser Handeln.

Bittner sieht „False Balance“ teilweise missbraucht: „In der Toolbox, wir müssen unsere Bubble befestigen“. Der Programmchef des Mitteldeutschen Rundfunks, Klaus Brinkbäumer, differenzierte: „Mitunter wird False Balance missbraucht. Aber natürlich gibt es das Problem der falschen Ausgewogenheit, das Bestreben, immer die Gegenthese mit hineinzunehmen, auch Menschen in den Medien auftreten lassen, die sich in der Vergangenheit dadurch hervorgetan haben, dass sie eine bestimmte These schon einmal vertreten haben. Das erzeugt ein Klima des Streits und populäre Inhalte – und das ist bisweilen False Balance.“ Als Beispiel führte Brinkbäumer Donald Trumps falsche Behauptung an, dass er um den Wahlsieg betrogen worden sei, und was von den Medien dadurch immer und immer wieder perpetuiert werde.

„Die deutsche Medienlandschaft ist zum Glück noch eine andere“, betonte Kirsten von Hutten, Pressesprecherin des Presserats: Bislang bezögen sich nur vereinzelte Meldungen an den Presserat auf einen Vorwurf der „False Balance“ und darauf, dass Minderheitenmeinungen zu viel Platz eingeräumt werde. Von Hutten stellte aber auch klar, dass sie dort rein nach dem Pressekodex prüfen würden und nannte ein Beispiel. Es ging um die Frage, ob ein „ich sag mal Corona-kritischer Mensch“ von einer Zeitung als „Faktenchecker“ bezeichnet werden dürfe. „Da er in diesem konkreten Fall Fakten gecheckt hat, darf man ihn auch als Faktenchecker bezeichnen“, erklärte von Hutten. Daran schloss eine zweite Frage an: Darf man dieser Person überhaupt Raum geben in einer Zeitung? „Das ist für uns als Presserat relativ einfach: Die Frage haben wir überhaupt nicht zu entscheiden. Die haben die Redaktionen zu entscheiden.“ Da handele der Presserat letztendlich genauso, als wenn es um Geschmacksfragen ginge. Denn meist wären die Fälle nicht eindeutig, etwa wenn es um Kekulé oder Streeck gehe, dann wären zum Beispiel die Corona-Maßnahmen interpretationsfähig und das mache es schwierig.

Urner brach es auf das einfache Beispiel runter: „Sie lächeln, wenn sie sagen, es wird doch keiner eingeladen, der sagt: 2 und 2 sind 5. Das können wir alle ohne eine Fachausbildung beurteilen. Aber das Analoge dazu wird betrieben, wo wir alle die Einschätzung nicht haben. Und deswegen kommt dem Journalismus so eine tragende Rolle zu. Weil wir nicht alle sagen können, das ist ein Fall von 2 plus 2 ist 5.“

Zwischendrin versuchte Bittner schon mal eine vorgebliche Einigkeit der Runde zu konstituieren, dass False Balance doch kein so großes Problem wäre. Urner unterbrach ihn da mit einem deutlichen „Doch“ und auch MDR-Programmchef Klaus Brinkbäumer argumentierte anders. Er stimmte Bittner zwar zu, das Spektrum der abgebildeten Meinungen zwar generell weit zu halten, die Vermeidung der False Balance sieht er allerdings dann als eine handwerkliche Aufgabe des Journalismus: „Wir sollten das Spektrum weit halten. Aber dann folgt daraus etwas: Die Analyse, die Bewertung, was stimmt hier eigentlich.“

Mehr krachende Fragen!

Von Hutten berichtete weiter aus ihrer Arbeit für den Presserat. Dort gäbe es mehr Kritik von Maßnahmen-Kritiker*innen: „Meine Befürchtung ist, dann haben die noch mehr das Gefühl, dass man sie gar nicht mehr zu Wort kommen ließe.“ „Es gibt generell die Tendenz der schreienden Minderheit mehr Gewicht zu geben“, betonte Urner. Sie verwies auf die COSMO-Umfrage, die zeigt, dass ein Großteil der Bevölkerung hinter den Corona-Maßnahmen stand und steht: „Was wir medial erfahren haben, war die Überabbildung der schreienden Minderheit.“ Und auch Brinkbäumer sieht die Gefahr, dass Medien bewusst manipuliert würden. Beim Thema Rauchen hätte dies für eine Verzögerung von zwei Jahrzehnten bei den entsprechenden Gesetzen geführt. 

Auf Burmesters Frage, wie sich Medien davor schützen könnten, antwortete Bittner: „Wir werden die ganze Zeit benutzt. Es ist ein Geben und Nehmen.“ Generell setze er auf den kritischen Geist der Menschen: „Wir können es uns als aufgeklärte Gesellschaft leisten, den Cringe zu hören!“ Urner hielt wieder dagegen: „Die Fakten reichen nicht aus. Wir sind alle diese hochemotionalen Wesen, darum funktionieren Korrekturen im Nachhinein nicht.“ Sie schloss daher gleich noch eine Forderung an: „Daher brauchen wir ein grundlegendes psychologisches Wissen bei der journalistischen Ausbildung.“

In der Schlussrunde wünschte sich von Hutten mehr Einordnung durch den Journalismus: „Auch wenn Quotendruck und anderes das schwierig machen“. Bittner kann sich durchaus andere Debatten vorstellen: „Es kracht zu viel bei den Personen, weil man die immer gleichen Menschen aufeinander loslässt. Weniger krachende Figuren und mehr krachende Fragen!“ Urner stellte ein Politikformat aus Skandinavien vor, das anders funktioniert als landläufige Talkshows: Dort werden Politiker*innen verschiedener Parteien in einen Raum gesperrt, die gemeinsam ein Problem lösen müssen. Währenddessen wird der Raum immer kleiner. Brinkbäumer kann sich so ein Format im MDR durchaus vorstellen: „Wir wollen ein spannendes Programm machen. Und es gibt zu viele Wiederholungen.“

Die Diskussionsrunde gibt es hier zum Nachsehen:

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Kirsten von Hutten sprach vor kurzem mit unserem Medienpodcast über die Bilder des Krieges

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