Das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm fiel 2018 wegen seiner Vielfältigkeit, wegen eines kontroversen Preisträgerfilms, aber vor allem wegen seines hohen Anteils an Filmemacherinnen auf. Gerade in Zeiten, in denen die leisen, Hoffnung bringenden Zeichen vom rücksichtslosen, oft genug männlich dominierten Gepolter der Zerstörung und Rückwärtsgewandtheit übertönt werden, sind die Signale, die in diesem Jahr von der DOK ausgehen, wertvoller denn je. – Und davon gab es viele!
Da wäre zum Beispiel die Frauenquote. Mitten in der #MeToo-Bewegung, die nach dem Weinstein-Skandal nicht nur die Gewalt gegen Frauen in den Fokus rückte, sondern auch einen Scheinwerfer auf die männerdominierte Filmbranche richtete, hört man aus Leipzig Zahlen, die Mut machen. 306 Filme aus 50 Ländern wurden in der Festival-Woche vorgestellt, in die offizielle Auswahl kamen 160 Filme. Und bei mehr als der Hälfte dieser 160 Filme führten Frauen Regie. Das ist für sich schon ein bemerkenswerter Anteil, den man auf vielen anderen Festivals vergeblich sucht. Noch bemerkenswerter dabei ist jedoch, dass der Frauenanteil erst nach dem Auswahlprozess ermittelt wurde, wie der Leiter der Auswahlkommission, Ralph Eue, erklärte.
ver.di-Preis an Katinka Zeuner
Was der Kommission bei der Auswahl der Filme unbewusst gelang, setzte sich bei den diesjährigen Auszeichnungen nahtlos fort. Als am Abend des 3. November im Leipziger Kupfersaal die besten Filme ausgezeichnet wurden, musste man genau hinsehen, wollte man unter den mehr als 20 Preisträger_innen einen Mann sehen. Im Fußball würde man von einer drückenden Überlegenheit der Frauen sprechen.
Die zeigte sich auch bei der Jury-Auswahl für den ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness. Katinka Zeuner wurde hier für ihren Film „Der Stein zum Leben“ ausgezeichnet. Die Regisseurin, Produzentin und Kamerafrau begleitet einen Steinmetz, der sich auf individuelle Grabsteine spezialisiert hat und der „auf empathische Weise Trauerbegleitung, Kunst und Handwerk vereint“, wie es in der Begründung der Jury heißt.
Nicht weniger eindringlich und empathisch ist der Film von Mala Reinhardt, welcher der ver.di-Jury eine lobenswerte Erwähnung wert ist. In „Der Zweite Anschlag“ widmet sich die Filmemacherin den Betroffenen und Hinterbliebenen von rassistischen Anschlägen in Deutschland. Über zwei Jahre haben Reinhardt und ihr Team an dem Film gearbeitet, anfangs nur mit wenig Eigenkapital, aber dafür mit stetig wachsender Unterstützung aus allen möglichen Richtungen. Herausgekommen ist eine Dokumentation, die den Opfern von Lichtenhagen, Mölln oder der NSU-Morde eine Stimme gibt, die beim Medienrauschen über die Täter allzu oft untergeht: „Der Anschlag der Medien, der Gesellschaft, der Politiker. Das ist der schlimmere Anschlag“, erklärt im Film Ibrahim Arslan, der den tödlichen Brandanschlag auf seine Familie in Mölln überlebt hat, über die Zeit nach dem eigentlichen Attentat.
Gorbatschow, Herzog und Gesprächsstoff
Zeuner und Reinhardt reihen sich mit ihren Werken also ein in die vielen ausgezeichneten Filmemacherinnen des diesjährigen DOK-Festivals. Die ganz großen Schlagzeilen bestimmten aber trotzdem wieder Männer. Im ersten Fall, weil es sich um zwei ganz große Namen handelt: Werner Herzog und Michail Gorbatschow. Der Grandseigneur des deutschen Films porträtiert in seinem Film „Meeting Gorbachev“ den russischen Politiker und das ehemalige Staatsoberhaupt der Sowjetunion und eröffnete damit das Festival.
Im zweiten Fall handelt es sich um die Dokumentation „Lord of the Toys“ von Regisseur Pablo Ben Yakov und Kameramann André Kümmel. Der Film begleitete eine Gruppe männlicher Dresdner YouTuber in deren Alltag und zeichnet dabei das Bild einer bizarren Welt aus Gewalt, innerer Leere und rassistischer Sprüche. Der Film gewann die Goldene Taube im deutschen Langfilm-Wettbewerb, sorgte aber gleichzeitig für kontroverse Diskussionen noch während des Festivals. Dem Film wurde unter anderem eine affirmative Wirkung zugunsten rechten Gedankenguts unterstellt – ein Vorwurf, dem sich die Filmemacher selbst wie auch Festivalleiterin Leena Pasanen entgegenstellten.
Leena Pasanen: „Ein guter Film ist ein guter Film“
Was der Film auf jeden Fall zeigt, ist das, was Ralph Eue bereits im Vorfeld des Festivals als Antrieb für die Filmauswahl sagte: „Wir waren immer bemüht, einen Einblick in das zu geben, womit sich Filmemacher der ganzen Welt beschäftigen: Wie lebt der Mensch?“. Vor diesem Hintergrund kann man die Zahlen über weibliche Filmemacher des diesjährigen DOK-Festivals natürlich lesen, wie man möchte. Als unbewusste Wiedergutmachung einer lange Zeit unterrepräsentierten Stimme vielleicht.
Man kann – ein wenig optimistischer – die vielen Regisseurinnen und Preisträgerinnen aber vielleicht auch als zarten Keim einer neuen Normalität sehen. Als Zeichen, dass es egal ist, ob ein Mann oder eine Frau auf dem Regiestuhl sitzt, solange beide die Chance darauf haben.
In diesem Sinne könnte man dann auch die Worte von Festivaldirektorin Leena Pasanen verstehen: „Wir haben fast 50.000 Leute, die kommen, um Filme zu sehen. Wir wollen wirklich sicherstellen, dass es für viele Menschen interessante Themen gibt, dass jede Zielgruppe relevante Bedeutung finden kann. Ein guter Film ist ein guter Film.“