Gefühlter Journalismus

Jahrestagung netzwerk recherche: Freiheit heißt auch Verantwortung

netzwerk recherche, nach eigenen Angaben die „Lobby für den in Deutschland vernachlässigten investigativen Journalismus“, hat in Hamburg Mitte Juni zwei Tage lang ihre Jahrestagung abgehalten: Mehr als 600 Teilnehmer waren gekommen, ein Marathon-Programm mit 104 Veranstaltungen wurde geboten. Schwerpunkt des ersten Tages in Zusammenarbeit mit n-ost, dem Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung: Pressefreiheit unter Druck – Journalismus in Osteuropa.

Die gefühlte Stimmung ist ein wenig wie auf der Buchmesse: Viele Angebote, ein Hauptthema, viele Gesichter, noch mehr Bekannte. Alte Kollegen, mit denen man schon immer mal wieder reden wollte oder jene, die man nie wieder zu treffen hoffte: Erfahrungsaustausch und Small Talk. Oder wie Organisator und nr-Vorstandsmitglied Kuno Haberbusch (zapp/NDR) es zusammenfasst: „In erster Linie ist es eine Begegnungsstätte, Kontaktbörse. Viele junge Kollegen kommen von kleinen Zeitungen und Medien aus der Provinz. Sie treffen hier in Augenhöhe auf prominente Kollegen.“ Und auf ein Hauptthema, das den ersten Tag bestimmt: Die Gefährdung der Pressefreiheit in Osteuropa. Journalisten und Wissenschaftler aus Russland, Polen, Tschechien, Tschetschenien, Kasachstan und der Ukraine berichten über Medienfreiheit und Einschränkung ihrer Arbeitsmöglichkeiten. Fazit im Russland Putins: 14 getötete Journalisten, pro Jahr 60–70 tätliche Angriffe auf Journalisten, jährlich etwa 50 Strafverfolgungen von Journalisten wegen Beleidigung, Verleumdung oder des Verstoßes gegen den Extremismus.
Folgerichtig, dass in diesem Jahr die „Verschlossene Auster“ für den „Informationsblockierer des Jahres“ an Wladimir Putin geht. Der Innenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl in seiner Laudatio: „Die Meinungsfreiheit in Russland ist die Freiheit, Putin zu lieben – die meisten Russen machen davon Gebrauch.“ Und die Pressefreiheit dort sei die Freiheit, „so zu schreiben, wie Putin es mag – die meisten Medien machen davon Gebrauch“.
Konsequenz des ersten Tages: Die Verabschiedung des „Hamburger Signals“, einem Aufruf „zur Presse- und Meinungsfreiheit im östlichen Europa“, der auf der Studie von n-ost „Zwischen Propaganda und Kommerz – Medien(un)freiheit in Südost-, Mittelost- und Osteuropa“ basiert. Der letzte Satz des Signals: „Freiheit heißt auch Verantwortung – Verantwortung sich gegen Beschränkungen der Freiheit einzumischen.“

Weg von der Anbiederei

Eine gute Überleitung zum zweiten Tag, zu den deutschen Verhältnissen in der hiesigen „Journaille“. Schon die Auftaktrede von Tom Schimmeck ist eine gnadenlose Abrechnung mit der Zunft und „jenem verschmockten, völlig inhaltsleeren, dafür umso aufgeblaseneren Zirkus, der sich ‚Hauptstadtjournalismus‘ nennt“. Er kritisiert journalistische Ausbildung, redaktionelle Hackordnung, die Berufsverhältnisse im Allgemeinen und den medialen Zeitgeist im Besonderen. Er fordert Haltung in und für diesen Beruf mit der Aufforderung: „Lassen wir uns also unsere Medien nicht versauen.“ Ob und wie versaut die Medien schon oder doch noch nicht sind, wird anschließend in Foren, Erzählkaffees, Workshops, Wundertüten und Lessons diskutiert. Es ist schwierig, die Übersicht zu behalten, sich innerhalb dieses mannigfaltigen Angebots zu entscheiden. Der Buchmesse-Charakter eben.
Doch zwei Spielarten schälen sich heraus: Die wissenschaftlichen Foren, in denen mit viel Power-Point-Presention wunderschöne Schaubilder, aber nichts wesentlich Neues anzuschauen ist, und praxisbezogenen Diskussionsrunden, in denen journalistische „Macher“ möglichst kontrovers ein Thema angehen.
Vier Beispiele: Im Forum „Gefühlter Journalismus“ gehen Wissenschaftler der Uni Münster der Frage nach, wer heute Journalist sei. Der Artikel 5 Grundgesetz wird strapaziert, eine Untersuchung präsentiert und nach 90 Minuten hat es auch der letzte begriffen, dass der Untertitel zu recht lautete: „Anatomie einer undefinierbaren Berufsgruppe“. Oder das Forum „News to amuse – die neuen Nachrichtenfaktoren“. Hier werfen sich Georg Ruhrmann und Roland Göbbel, beide von der Uni Jena, die Bälle zu: Drohende Boulevardisierung, Akzeptanzforschung, wissenschaftlich-messbare Qualität. Schön, dass Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD Aktuell, feststellen kann: „Für uns ist der Weg klar, wir halten die Marke sauber.“
Spannender schon die Frage zur „Zukunft der ARD-Magazine“, denn hier sitzen Medienredakteure und Magazin-Macher an einem Tisch. Ihre Forderung ist zwar auch nicht neu, dafür aber um so schöner: Stärkung des jeweiligen Profils und zurück zu dem 45-Minuten-Format.
Richtig neu und spannend die lebhafte Diskussion der Sportredakteure zum Thema „Doping“, die auf einen „Paradigmenwechsel“ in der Sportberichterstattung hoffen lässt. Weg von der Anbiederei, mehr Distanz zu dem Objekt der Berichterstattung, sich nicht gemein machen mit denen, über die man berichtet. ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender: „Wir waren alle Teil des Systems. Man hat sich mittragen lassen von einer Begeisterung.“
Das fürwahr ist ein schönes Schlusswort, so dass es jetzt weiter gehen kann zu den anderen Ständen, dort wo die Kollegen sich unterhalten, inhaltsschwer oder oberflächlich, zumindest aber schon ein Bier trinken. Eine Messe eben.

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