Das Corona-Virus hat den Journalismus auf ein neues Hoch in der Publikumsgunst befördert. Aber mal von dem erfreulichen Umstand abgesehen, dass die Menschen den Wert journalistischer Berichterstattung wieder etwas mehr zu schätzen wissen: Wie gut ist denn eigentlich diese Berichterstattung? Und werden die Erwartungen, die die Bevölkerung in dieser Krise berechtigtermaßen haben darf, eigentlich erfüllt? Hier sind Zweifel angebracht.
Die Leser*innen des „Redaktionsnetzwerks Deutschland“ erhalten in diesen Tagen eine „(pädagogisch wertvolle) Auswahl“ an Tipps gegen Langeweile und Familienfrust. Die Jugendabteilung der „Süddeutschen Zeitung“ hält Lektüretipps parat: Aber bitte erst schmökern, nachdem alle Serien gebingewatcht sind. Die ARD-„Tagesschau“ rät, es bei Lagerkoller zu machen wie die Astronauten der Raumstation ISS – ohne jedoch zu verraten, wie wir da hinkommen sollen. Und der „Kölner Express“ feiert ein Lied, das zum Zuhausebleiben und Abbrechen von Sozialkontakten aufruft – in kölschem Dialekt, versteht sich, damit die Kölner*innen auch mitschunkeln können. Obwohl: Schunkeln ohne Sozialkontakte ist natürlich irgendwie auch schwierig.
Der Journalismus feiert gerade eine späte Blüte. Jaja, richtig, jener Journalismus, der in den letzten Jahren in regelmäßigem Turnus totgesagt, in die Tonne gekloppt und zum alten Eisen gezählt worden ist. Die Verleger schicken zwar ihre Belegschaft in Kurzarbeit, feiern aber gleichzeitig ein Hoch bei den neuen Aboverträgen. Die „Tagesschau“ verkündet jeden Tag neue Zuschauerrekorde. Und die Internetbandbreite geht in die Knie, weil so viele Menschen gleichzeitig auf die Onlinemediatheken zugreifen.
Talkshows und Unterhaltungssendungen im Fernsehen finden zwar ohne das applausbereite Publikum statt. Doch die Journalist*innen, besonders die im Fernsehen und im Boulevard, applaudieren dafür umso mehr.
Nämlich, was die Maßnahmen der Regierung(en) angeht. Einigen wenigen kritischen Stimmen ist das in der Zwischenzeit auch unangenehm aufgefallen. So stellt etwa Christoph Sterz bei „@mediasres“ im Deutschlandfunk fest, dass „Journalisten in diesen Zeiten jede kritische Distanz vermissen“ ließen. Auch Christian Bangel auf „Zeit Online“ konstatiert beunruhigt, dass sich nur sehr wenige fänden, „die die Aussicht auf eine allgemeine Ausgangssperre erschütterte“. Bei manchen Journalist*innen wie etwa Caren Miosga in ihrem Interview in den „Tagesthemen“ mit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet konnte man fast den Eindruck gewinnen, sie bettele um eine allgemeine Ausgangssperre.
Die Bundeskanzlerin darf ungefiltert eine Ansprache ans deutsche Fernsehvolk halten. Auch ihre Pressekonferenz vom 22. März mit der Verkündung eines allgemeinen Kontaktverbots wurde nicht wirklich mit kritischen Fragen seitens des Journalismus garniert.
Dabei hätte es dazu durchaus Anlass gegeben. Merkel hat etwa im Namen der Ministerpräsident*innen erklärt, „Gruppen feiernder Menschen“ seien auch „in Wohnungen sowie privaten Einrichtungen (…) in unserem Land inakzeptabel“ und Verstöße dagegen sollten „von Ordnungsbehörden und der Polizei überwacht und bei Zuwiderhandlungen sanktioniert werden“. Es gab dazu bei dieser Pressekonferenz, bei der Fragen explizit zugelassen waren, nicht eine einzige kritische Nachfrage. Dabei wird hier das heilige Recht der Unverletzlichkeit der Wohnung berührt (neben den vielen anderen gravierenden Grundrechtseinschränkungen) und auch nicht ausgeführt, wie denn die Ordnungsbehörden den privaten Wohnraum überwachen sollen oder dürfen. Hätte man mal nachfragen können. Hat man aber nicht.
Bei etwas kritischem Verstand würden einem auch noch ein paar weitere Fragen einfallen, für die eklatanter Klärungsbedarf bestünde. Zum Beispiel könnte man nach der Rechtsgrundlage für diese universellen Grundrechtseinschränkungen fragen. Das Infektionsschutzgesetz, das hier häufig genannt wird, erlaubt Maßnahmen gegen Einzelne, die sich mit einem der dort gelisteten Erreger infiziert haben, sowie zur Eindämmung einer Epidemie. Zu diesen Maßnahmen zählt beispielsweise auch die Einschränkung der Unverletzlichkeit der Wohnung. Taugen diese Vorschriften aber, um ein ganzes Land mit 80 Millionen Menschen mehr oder weniger unter Hausarrest zu stellen?
Ein anderer Fragekomplex, der von hohem öffentlichem Interesse ist, dreht sich darum, wer eigentlich in dieser Krise entscheidungsbefugt ist. Hier konnte man den Eindruck gewinnen, die veröffentlichte journalistische Meinung arbeite sich vor allem am Gerangel zwischen den Bundesländern ab und wünsche sich mehr Zentralismus in Deutschland. So ein Gerangel passt natürlich auch wunderbar ins Horse-Race-Frame, das der Journalismus ja gerne bemüht und bedient. Aber warum sollte denn eigentlich der Bund in Berlin die Situation an der deutsch-französischen Grenze und im Elsass besser beurteilen können als die Landesregierung in Stuttgart? Und warum sollte ein solcher Krisen-Zentralismus demokratischer sein? Das Infektionsschutzgesetz sieht hier die Kompetenz eindeutig bei den Ländern, und das hat vielleicht ja gute Gründe. Und da auch unsere (öffentlich-rechtliche) Medienlandschaft föderal strukturiert ist, sollte es nicht so schwierig sein, unterschiedliche Regelungen der Bundesländer auch der jeweiligen Bevölkerung zu vermitteln. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten betonen ja gerne ihren Regionalismus. Aber wenn es ernst wird, stehen sie sich und ihm dann doch wieder selbst im Weg.
Das Framing, das der Journalismus bedient, wird auch durch einen anderen Umstand deutlich: Es gibt eine Tendenz, eher die Zahlen der Johns Hopkins University in Baltimore (USA) zu veröffentlichen als die des deutschen Robert-Koch-Instituts. Mir scheint, das liegt vor allem daran, dass diese Zahlen größer sind und darum dramatischer klingen. Eine Dramatisierung der Ereignisse (und der zugrundeliegenden Zahlen) ist allerdings gar nicht nötig, denn die Situation ist schon dramatisch genug. Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts sind valide und ihre Quellen klar. Von der Johns Hopkins University kann man das so nicht behaupten.
Und apropos Entscheidungsfindung könnte man auch mal kritisch nachfragen, ob es überhaupt richtig ist, ein Land über Wochen auf dem Verordnungsweg zu regieren. Bei solch massiven Grundrechtseinschnitten könnte man doch erwarten, dass die Landtage und der Bundestag per Gesetz entscheiden und nicht Minister*innen und Ministerpräsident*innen per Verordnung. Und man könnte von Journalist*innen erwarten, dass sie da mal nachhaken, statt die Entscheidungen nur zu verkünden. Der „Lawblog“ spricht hier von einer „Selbstverzwergung“ unserer Parlamente. Man könnte auch von einer Selbstverzwergung des deutschen Journalismus sprechen.
Was der Journalismus in Zeiten der Corona-Krise viel zu häufig bietet, sind die immer gleichen Expert*innen und Politiker*innen mit recht vorhersehbaren Inhalten. Die Tagesschau ist mittlerweile auf eine 30-Minuten-Sendedauer umgestiegen, aber viel Neues oder Überraschendes hat sie auch mit dem Mehr an Sendezeit nicht zu bieten. Kritische Stimmen, die etwa die getroffenen (wirtschaftlichen) Maßnahmen oder gar ihre epidemiologische Wirkung in Frage stellen, werden viel zu selten zu Gehör gebracht. Auch der Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren kritisiert in einem Beitrag für den Fachdienst „epd medien“, dass die immer gleichen „Experten“ vernommen würden und dass die „Inszenierung von Bedrohung und exekutiver Macht dominiere“.
Jedes Agenda Setting ist immer auch ein Agenda Cutting: Die Sendezeit und die bedruckte und im Internet beflimmerte Fläche, die auf die Corona-Pandemie verwandt wird, verdrängt andere Sachverhalte und Ereignisse aus dem Sichtfeld. Dabei ist die Welt, entgegen dem weitläufigen Eindruck, nicht stehen geblieben. Die Krisengebiete, die es vor der Corona-Krise gab, bestehen immer noch, die Bürgerkriege, die Heuschreckenplagen und die Hungersnöte grassieren weiterhin völlig unbeschadet eines Virus, das auch den Journalismus beträchtlich infiziert hat. Am traurigsten wird es, wenn Journalist*innen berichten, wo es nichts zu berichten gibt: Etwa wenn die Sportredaktionen sich noch so unsinnige Storys einfallen lassen, um ihre Seiten zu füllen und das sportaffine Publikum anzusprechen. Und auch wenn Sport natürlich eine gesellschaftliche Wirkung hat und einen Wirtschaftsfaktor darstellt: Momentan ist Sport wirklich nicht wichtig. RTL immerhin hat das verstanden: Die Fernsehnachrichten finden ab sofort ohne Sportredakteur*in im Studio statt.
Liebe Journalist*innen, bitte macht doch wieder Eure Arbeit: Berichtet kritisch, fragt nach, bringt Mindermeinungen zu Gehör und vergesst den Rest der Welt nicht. Nur so als Vorschlag hier mal eine kleine Liste kritischer Fragen, die ihr einfach wieder bei jedem Interview und jeder Pressekonferenz dranhängen könntet – wenn man so will, die 10 Frage-Gebote des kritischen Journalismus:
- Wer hat was genau beschlossen?
- Wer ist dagegen?
- Auf welcher Rechtsgrundlage genau fußt die Entscheidung?
- Wie lange soll die Entscheidung maximal dauern?
- Wer hebt die Entscheidung wieder auf?
- Was sind die Entscheidungs- und Handlungsalternativen?
- Warum entscheidet die Exekutive und nicht die Legislative?
- Wer schützt nun die Grundrechte der Bürger*innen?
- Was sind die langfristigen Folgen und Aussichten?
- Was ist sonst noch los in der Welt?
Ich will mit alledem nicht sagen, dass die getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen nicht womöglich angemessen, notwendig und richtig sind. Ich will nur sagen, dass wir das nur herausbekommen werden, wenn wir im Widerstreit der Meinungen zu den richtigen Antworten kommen. Und richtige Antworten finden sich nur durch kritische Fragen. Ich weiß, dass die Arbeitsbedingungen auch für Journalist*innen gerade äußerst schwierig sind. Aber das Corona-Virus sollte nicht die Fähigkeit zum kritischen Nachfragen beeinträchtigen, sonst wird der Journalismus von einem ganz anderen Virus befallen, nämlich dem der Irrelevanz.
Liebe Journalist*innen, man beendet seine schriftlichen Äußerungen ja neuerdings gerne mit der Floskel „bleiben Sie gesund“. Ich möchte gerne anfügen: „Bleibt gesund und kritisch“.