Über den konkreten Verlauf des russischen Angriffskriegs in der Ukraine wird das deutsche Publikum seit Beginn der Invasion in allen Medien umfassend informiert. Das diesjährige Treffen des Korrespondenten-Netzwerks „Weltreporter“ am 11. November in Hamburg kreiste dagegen um das Thema „Nebenkriegsschauplätze: Wie Russlands Krieg die Welt verändert“. Erstmals erprobt wurde dabei das Format eines „Reporterslams“. Fazit: Viele Weltregionen sind in der Berichterstattung nach wie vor unterbelichtet.
Der gemeinnützige Verein „Weltreporter“ ist ein Zusammenschluss von rund 50 Korrespondent*innen, die freiberuflich im Ausland tätig sind. Berichtet wird für die meisten deutschsprachigen Funk- und Printmedien, und zwar aus fünf Kontinenten.
Weniger verbreitet als Nachrichten über das Kriegsgeschehen in der Ukraine sind Kenntnisse über die Auswirkungen, die der Krieg auf andere Regionen der Welt hat. Dieses Defizit versuchen die Korrespondenten von „Weltreporter“ mit Schlaglichtern auf die Situation in ihren jeweiligen Berichtsgebieten auszugleichen. In Hamburg geschah dies nicht in Form eines Kongresses oder Symposiums, sondern erstmals in Form eines Reporterslams. Jede/r der teilnehmenden 15 Journalist*innen bekam einen Zeitslot von 100 Sekunden, um schnell und knackig zentrale Aspekte der vom fernen Kriegsgeschehen ausgelösten Verwerfungen zu schildern.
Einige Beispiele: An die 100.000 Ukraine-Flüchtlinge haben die USA bislang aufgenommen, laut Christoph Drösser, Korrespondent in San Francisco, eine erstaunliche Solidarität mit einem Land, „das die meisten US-Bürger auf der Landkarte wohl nicht identifizieren könnten“, vor allem auch eingedenk der ansonsten äußerst restriktiven Einreisekonditionen. Direkte Folgen für die US-Wirtschaft habe der Krieg kaum – das Land sei energiemäßig autark. Daher habe das Thema im abgelaufenen Midterm-Wahlkampf auch keine Rolle gespielt.
Anders die Lage in Taiwan, berichtete Klaus Bardenhagen per Video-Botschaft aus Taipeh. Dort gebe es seit Kriegsbeginn heftige Diskussionen über den Militäretat und die Frage, wie gut die Zivilgesellschaft auf den befürchteten Ernstfall, einen Angriff Chinas, vorbereitet sei. Auch Deutschland habe endlich erkannt, wie stark der Machtanspruch Chinas die Souveränität Taiwans bedrohe.
Für das Weltklima bedeutet der Krieg nichts Gutes. Der hohe Ölpreis und die massiv gestiegene Gasnachfrage, so Leonie March, Standort Durban/Südafrika, befeuerten umstrittene Öl- und Gasprojekte in mehreren afrikanischen Ländern. In Namibia werde erstmals der Einstieg in die Förderung von fossilen Energien geplant. Angetrieben von einer Lobby, die die Bevölkerung mit der Aussicht auf Jobs, billiges Benzin und den vielfach noch nicht vorhandenen lang ersehnten Stromanschluss zu ködern versuche. Widerstand dagegen gebe es zwar, sei aber überschaubar. Klimaktivist*innen würden eingeschüchtert. Die Berichterstattung staatstreuer Medien sei „wenig ausgewogen, trotz Mahnungen des nationalen Presserats. Während auf dem Klimagipfel in Ägypten das große Potential der Solarenergie erörtert werde, feiere man auf Öl- und Gaskonferenzen in Namibia fossile Energie als „Game Changer“.
Welche Krisen und Konflikte eskalieren derzeit andernorts im Schatten des Ukraine-Kriegs weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit? An erster Stelle eine dramatische Hungerkrise, konstatiert Marc Engelhardt, seit kurzem Mitarbeiter von „Correctiv“ in Genf. Das Welternährungsprogramm der UNO spricht von 828 Millionen Menschen, die derzeit hungern – das entspricht zehn Prozent der Weltbevölkerung. Nahrung sei zwar vorhanden, im Gefolge des Krieges aber zu teuer und für viele Menschen unbezahlbar. Laut UN-Programm sei für 2022 ein Betrag von 24,5 Milliarden Dollar nötig, um die größte Not zu lindern – wenig im Vergleich zum 200-Milliarden-Euro- „Doppelwumms“, den allein die Bundesregierung einsetzen wolle, um die galoppierenden Energiepreise in Deutschland abzufedern.
Dass solche Problemlagen vielfach im täglichen Nachrichtenfluss untergehen, hat Engelhardt in seiner Anfang des Jahres publizierten Studie „Das Verblassen der Welt“ anschaulich analysiert. Anhand einer Langzeitauswertung von 23 überregionalen und regionalen deutschen Zeitungen belegte er, dass halbe Kontinente in der Auslandsberichterstattung faktisch kaum oder gar nicht vorkommen. Weit vorn im Ranking der Aufmerksamkeit liegen Länder wie die USA, Großbritannien, Frankreich und andere europäische Nachbarn. Am Ende der Skala rangieren 15 Länder, die von den Medien im Zeitraum von zehn Jahren komplett ignoriert wurden – darunter Äquatorialafrika, Guayana und die Republik Moldau. Letztere ist nur durch den Ukraine-Krieg dem Vergessen entrissen worden.
Der globale Süden steht somit eindeutig auf der Verliererseite des Krieges. Es gibt aber auch Länder, die politisch profitieren – vor allem von der kriegsbedingten Energiekrise. Spanien sei ein solches Beispiel, berichtet Julia Macher, seit Jahrzehnten freie Reporterin in Barcelona. Die Unabhängigkeit der iberischen Halbinsel vom russischen Erdgas ergebe neuerdings politische Handlungsspielräume, die von der Sanchez-Regierung geschickt genutzt würden. Was vor kurzem ordnungspolitisch noch als Eingriff in die freie Marktwirtschaft gebrandmarkt worden wäre, gelte jetzt als probates Rezept zur Eindämmung der Energiekosten: die Deckelung des Gaspreises und eine Übergewinnsteuer. Spanien habe diese Instrumente erfolgreich eingesetzt. Inzwischen werbe sogar die UNO dafür, auf diese Weise Krisengewinnler stärker zur Kasse zu bitten.
Solche Erfolgsgeschichten ändern aber nichts am grundsätzlichen Dilemma. Man erfahre seit der Invasion Russlands zwar mehr über die Ukraine, sagt Marc Engelhardt, es gebe aber viele Länder, aus denen wir seither noch weniger hören als davor.
Die Gründe für diese Fehlentwicklung sind struktureller Natur: Spardruck in Redaktionen und schrumpfende Budgets bei gleichzeitiger Abnahme der Zahl von Auslandsseiten und Sendeplätzen. Statt kontinuierlicher Berichterstattung finde diese nur noch anlassbezogen statt – unvermeidlich angesichts ausgedünnter Auslandsseiten und -studios. Die Unterversorgung führe zu einer völlig verzerrten Weltwahrnehmung, urteilt Engelhardt: „Dann entsteht im Kopf das Bild einer Art Zone des Guten, also Europa und vielleicht noch die USA, und des Restes der Welt, der so eine Art außersystemisches Chaos darstellt“.
Gegen diese verzerrte Wahrnehmung, so fordert „Weltreporter“, hilft nur eines: mehr qualifizierter Auslandsjournalismus. Der Verein selbst trägt über die alltägliche Arbeit seiner Mitstreiter hinaus mit eigenen Publikationen dazu bei. Zuletzt erschien „Die Klimakämpfer“, mit Porträts der „heimlichen Heldinnen und Helden“, die sich weltweit „mutig für den Klimaschutz und mehr Nachhaltigkeit“ einsetzen, die sich „gegen Raubbau, Lebensmittelverschwendung und Klimakrise“ wehren.