Lottokönig und Wiedschäj

Digitalisierung im Fernsehen: veränderte Arbeitsteilung und Berufsbilder

Seit etwa fünfzehn Jahren hat die Digitalisierung auch im Fernsehen Einzug gehalten. Sorgte sie zunächst nur für fliegende Bilder, führt sie heute zu einer Veränderung von Arbeitsteilung und Berufsbildern. Fragen nach Programmqualität und Arbeitsplätzen müssen erlaubt sein.

Erinnern Sie sich noch an den Lottokönig? Ja genau – Loriots Filmteam überfällt den armen Lottogewinner und verwirrt ihn mit geplatzten Scheinwerfern, Mikros im Bild, leeren Filmkassetten und verpatzten Schärfeeinstellungen so lange, bis er mit dem Papst eine Bierboutique eröffnen will. Beleuchter, Kameraassi, Tonmann, Realisator – vier Mann nehmen dem Lottokönig die Bude auseinander und zeigen, was Fernsehen ist.

Loriot hätte heute ein neues Opfer: Bepackt mit DV-Kamera, Leichtstativ und Hobby-Lampe betritt eine junge Dame die Wohnung des Lottokönigs, sucht nach Steckdosen für ihre drei Steckernetzteile und fummelt verwegen an den Miniklinkensteckern ihres Mikrophons herum. Während sie dem Lottokönig sinnlose Fragen stellt, schielt sie auf die Leuchtdioden der Tonaussteuerung und wackelt verkrampft mit der Amateurleuchte. Schließlich muss sie ja das Ganze nachher auch noch schneiden – als Video-Jounalistin, oder VJ – gesprochen: Wiedschäj (Modellprojekt beim Hessischen Rundfunk M 6 – 7 / 2004).

Alte Arbeitsteilung löst sich auf

Das Beispiel zeigt, wo die Haupteffekte der auch im Fernsehen fast abgeschlossenen Digitalisierung der Produktionsgrundlage zu suchen sind: Die herkömmliche, noch in der Filmproduktion verwurzelte Arbeitsteilung im Fernsehbetrieb löst sich auf und an ihre Stelle tritt – häufig noch sehr zögerlich – eine neue.

Die typische Produktionskette für die Fernsehproduktion gliedert sich in Akquisition (Drehen, Mitschneiden), Montage und Tonbearbeitung, Studioproduktion und Sendung. Sie gilt so für alle originären Fernsehformen wie Magazinsendungen, Nachrichtensendungen, Sportübertragungen, Dokumentationen sowie Talk- und Unterhaltungsshows. Alle fiktionalen Produktionen, also Spielfilme, Serien usw. folgen anderen Gesetzmäßigkeiten.

Die Grenzen dieser Produktionsschritte, die sich häufig bis heute in den Abteilungsgrenzen der Produktionsbereiche von Rundfunkanstalten widerspiegeln, waren ursprünglich aufgrund der verwendeten Technik scharf markiert: Die Akquisition erfolgte auf 16mm Film, kein Filmkameramann konnte im Studio eine elektronische Kamera auf dem Pumpenstativ bedienen – und ebenso wenig ein „Schwenker“ eine Filmkamera. Mittlerweile arbeiten beide am gleichen Gerät, auch wenn die Arbeitsmethoden sich nach wie vor unterscheiden. Ein Cutter konnte auch im aktuellen Bereich früher den Ton lediglich bildsynchron montieren. Heute schließt jedes nonlineare Schnittsystem eine vollständige Tonbearbeitung ein. Schließlich war früher zur Sendeabwicklung ein besonderes Studio mit Regiezone, Zuspielbereich (MAZ), technischer Kontrolle und separater Tonregie notwendig – heute sind diese Funktionen vieler Orts integriert, eine starre Trennung von Ton- und Bildaufgaben ist überholt und viele nonlineare Schnittsysteme können in Verbindung mit einem Sendespeicher durchaus auch als Sendeablaufsteuerung dienen.

Bei alledem schälen sich die gestalterischen Fähigkeiten der einzelnen Berufe als das eigentlich entscheidende Kriterium heraus: Bildkomposition, Montagegesetze, graphische Fähigkeiten, Kenntnisse der Tongestaltung, aber auch ablauforganisatorische Anforderungen sind prägend für die Anmutung und Gestaltung einer Sendung und damit auch für ihre tatsächliche Wirkung. Diese Anforderungen unterscheiden sich zu einem Teil von dem Genre der produzierten Sendung: So ist im Bereich der News-Produktion durchaus eine Kombination Kamera-Schnitt-Ton-Sendeabwicklung denkbar, während z. B. die Dokumentation weiter eine spezialisierte Kamera und eine besondere Montage und Tonbearbeitung verlangt. Spezialisten für die Sportübertragung und die damit verbundenen speziellen gestalterischen Anforderungen sind ebenso denkbar wie spezielle Teams für Sendungen im virtuellen Umfeld. Die deutlichste Veränderung von Arbeitsteilung haben moderne Newsroom-Integrationen und Redaktionssysteme gebracht. Sie lösen vor allem die Grenze zwischen Redaktion und Produktion auf und betreffen massiv die Beschäftigten, die sich mit der Organisation der Redaktionsarbeit beschäftigen: Aufnahmeleiter und so genannte Producer.

Selbstverständlich wird eine wie immer sich verändernde Arbeitsteilung und damit das Wegfallen von technischen Grenzen der Arbeitsleistung genutzt, um die Arbeit zu verdichten. Wo der Kameramann früher seine Kamera in den Schrank gestellt hat, eilt er jetzt zum Schneidetisch oder betreut die Sendeabwicklung …

Die Abwehr dieser Arbeitsverdichtung gehört zu den wichtigsten Handlungsfeldern für Gewerkschaften sowie die betrieblichen Interessenvertretungen. Die Versuchung liegt nahe, die technischen Schranken, die bisher der Arbeitsverdichtung entgegenstanden, zu hegen und zu pflegen, um damit quasi eine natürliche und unumstößliche Grenze für diese Entwicklung zu haben. Leider führt das zu einer grundlegend gegen technische Veränderungen gerichtete Strategie, die erfahrungsgemäß (siehe den berühmten Heizer auf der E-Lok) nicht von dauerhaftem Erfolg gekrönt ist – und überdies den Gewerkschaften bei jüngeren Kollegen ein katastrophal rückwärtsgewandtes Image beschert.

Erfolgversprechender erscheint die Strategie, die Grenzen der Arbeitsverdichtung aus dem Gesundheitsschutz abzuleiten. So sollte schon aus Gründen des Unfallschutzes ein Kameramann niemals alleine von der Schulter drehen dürfen. Er kann – da er auch noch als lebendes Stativ dient – nicht sehen, welche Gefahren z. B. in einer Menschenmenge auf ihn zu kommen. Und selbst auf dem freien Feld hat er kein Auge für Stolperfallen.

An den modernen Schnittsystemen entsteht für die meist weiblichen Beschäftigten eine enorme Belastung durch die praktisch ununterbrochene Bildschirmtätigkeit. Auch hier können Obergrenzen aus den Vorschriften für die Bildschirmarbeit abgeleitet werden. Dabei sollten die Gewerkschaften auf der Erkenntnis bestehen, dass die Montage von Bildmaterial einen erheblich intensiveren Blickkontakt mit den Bildschirmen erfordert, als etwa das Schreiben von Briefen…

Breites Qualifikationsniveau?

Am stärksten jedoch sind von den neuen Entwicklungen gar nicht die Produktionsmitarbeiter betroffen. Die Redakteure und Realisatoren bleiben am Ende auf allen Arbeiten sitzen, die man „erfolgreich“ bei den Produktionsberufen wegrationalisiert hat. Es liegt auf der Hand, dass wesentliche Kernaufgaben der Programmmitarbeiter davon betroffen sein werden. Zeit, die für die Verwaltung von Metadaten und das Einpflegen von Beiträgen in Sendeabläufe benötigt wird, stehen für Recherche, Hintergrundstudium oder einfach kritische Reflexion nicht mehr zur Verfügung. Auch hier könnten Schranken definiert werden, die sich am journalistischen Handwerk orientieren. Beispielsweise sollte es verpönt sein, ein Interview zu führen und gleichzeitig für technische Aufgaben verantwortlich zu sein.

Wichtigstes Handlungsfeld für die Gewerkschaften ist in diesem Zusammenhang die Ausbildung. Mit dem Ausbildungsberuf „Mediengestalter Bild und Ton“, der entscheidend von den gewerkschaftlichen Vertretern in den Sachverständigenkommissionen geprägt wurde, hat sich die Forderung nach einer berufsfeldweiten Grundbildung, die auch zukünftigen, veränderten Arbeitsteilungen und Produktionstechniken gerecht wird, durchgesetzt. Dieser Ausbildungsgang wurde zunächst misstrauisch beäugt, die Absolventen als „eierlegende Wollmilchsäue“ abqualifiziert. Mittlerweile arbeiten hunderte Mediengestalter mit großem Erfolg in den unterschiedlichsten Berufen bei Fernsehen und Hörfunk. Aus gutem Grund wurde für diesen Beruf der Begriff „Mediengestalter“ gewählt, denn es handelt sich nicht um eine technik-abhängige Ausbildung. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Anforderung, programmliche Anforderungen auf die unterschiedlichste Art zu realisieren – Technik ist also nicht der Arbeitsgegenstand, sondern eines der Werkzeuge zur Gestaltung von Programm.

Noch steht die Integration des neuen Berufsbildes in die Rahmenvorschriften der Vergütungstarifverträge bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aus. Hierzu ist es notwendig, die Qualifikationsanforderungen auf dem Niveau verschiedener Vergütungsgruppen neu zu definieren. In vielen technischen Bereichen ist es noch üblich, die Vergütungsgruppe an der Anzahl der Knöpfchen am Arbeitsplatz fest zu machen. Qualifikationsprofile, die quer zur herkömmlichen Arbeitsteilung verlaufen, werden häufig aus dem begrenzten Blick jedes einzelnen Arbeitsschrittes begutachtet – also mittlere Anforderungen bei der Kamera, beim Schnitt und bei der Sendeabwicklung ergeben zusammen auch wieder mittlere Anforderungen – das erheblich breitere Qualifikationsniveau und die Spezialisierung z. B. auf Nachrichten- oder Sportsendungen bleiben außer Betracht. Solche Qualifikationsprofile werden häufig fälschlicherweise als „Funktionskoppelungen“ bezeichnet – obwohl sie beim näheren Hinsehen einfach eine andere, veränderte Arbeitsteilung abbilden.

Kein Jodeldiplom

Entscheidend wird es sein, auch für die oberhalb der dualen Ausbildung – nämlich dem Mediengestalter Bild und Ton – angesiedelten Qualifikationen allgemeingültige Beschreibungen zu erhalten. Dazu sind Fortbildungsregelungen der geeignete Weg.

Da schließt sich der Kreis – und wir sind wieder bei Loriot. Denn berufliche Aus- und Fortbildung darf nicht zum Jodeldiplom führen, also zu mehr oder minder nutzlosen theoretischen Fortbildungsgängen, bei denen die Urkunde mehr wert ist als die darauf bescheinigte Qualifikation. Das geht nur, wenn die Beschäftigten selbst durch ihre Gewerkschaften an den entsprechenden Berufsbeschreibungen beteiligt sind.

 

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