Selten ein Ja-Nein-Schema

Am 20. November vor 60 Jahren wurde der Deutsche Presserat gegründet

Publikum und Redaktionen sollten wachsam bleiben! Das wünscht sich Manfred Protze zum 60-jährigen Jubiläum des Deutschen Presserats. Er ist seit März dieses Jahres – mittlerweile zum dritten Mal – Sprecher des Rats, dem er bereits seit 1987 als Vertreter der dju in ver.di angehört. Im Gespräch mit „M” äußert er sich über einen „wenig schmeichelhaften Tiervergleich”, über „lernende und diskursive Verfahren” in den Beschwerdeausschüssen, wendet sich gegen eine „Bußgeldbürokratie” und erklärt, warum das Publikum der „wirkliche Wächter” der Medienmoral ist und was gegen öffentliche Beschwerdeverhandlungen spricht.

M | Immer wieder taucht die Kritik auf, der Presserat sei ein „zahnloser Tiger”. Hat er doch Zähne und zeigt Biss beim Einsatz für Berufsmoral und Pressefreiheit?

Manfred Protze
Foto: Christian von Polentz

Manfred Protze | Der „zahnlose Tiger” ist so ziemlich tot, er war auch immer nur ein Phantom und repräsentiert nichts anderes als eine Vorstellung von Selbstregulierung in den Medien, die weit entfernt ist von dem, was wir für sinnvoll halten. Dieser basiert auf der Annahme, im Journalismus gebe es so etwas wie Verkehrsverstöße, die man messen und dann zur Abschreckung bestrafen kann, oder Ladendiebstahl, bei dem eindeutig festgestellt werden kann, dass etwas entwendet worden ist. Journalismus ist anders und komplexer.

Die Fehler und Grenzüberschreitungen, die dort begangen werden, beruhen in den allermeisten Fällen nicht auf irgendeinem Vorsatz und sind auch nicht häufig in einem Ja-Nein-Schema zu erfassen. Wir haben deshalb als Verfahren die diskursive Methode gewählt. Wenn wir eine Beschwerde über eine Veröffentlichung erhalten, kommunizieren wir mit der Redaktion und versuchen erst einmal, ihre Beweggründe und die Situation zu erfassen, in der das Ganze zustande gekommen ist. Dann geben wir ein Urteil ab – in der Erwartung, dass dies in der Redaktion auch ein Echo hat. Aus unserer Sicht ist dieses lernende und diskursive Verfahren erfolgreicher als eine simple Bestrafung, die in aller Regel nur dazu führen wird, dass die Betroffenen sich nach allen Kräften verteidigen und sich ansonsten aber jeder Auseinandersetzung über das eigene Tun entziehen.

Aber der Presserat hat doch Bestrafungs- und Sanktionsmöglichkeiten wie die Rüge. Und da gibt es Presseorgane wie „Bild”, die das ignorieren. Bei einer Journalistenbefragung 2007/08 von Carsten Reinemann war etwa die Hälfte der Redakteur_innen dafür, dass der Presserat finanzielle Sanktionsmöglichkeiten erhält, um seine Urteile besser durchzusetzen. Warum verhängt der Presserat in diesen Fällen – wenn der Rügenabdruck verweigert wird – keine Bußgelder?

Zunächst muss ich eine in Ihrer Frage enthaltene Unterstellung kommentieren. Die Annahme, dass die Urteile des Presserats bei der Bild-Zeitung nichts bewirken, ist durch nichts bewiesen. Wir stellen fest, dass unsere Entscheidungen auch gerade in diesem Verlagshaus ziemlich ernst genommen werden. Das schließen wir aus der Tatsache, dass sich die Redaktionen sehr intensiv und argumentativ mit den Beschwerden auseinandersetzen. Diesen Aufwand würde man nicht betreiben, wenn es bedeutungslos wäre. Zudem schließen wir das aus zum Teil heftigen öffentlichen Reaktionen, die wir zwar nicht immer schätzen, die aber als Indikator für eine wirksame Arbeit des Presserats gesehen werden dürfen.

Zur Frage der finanziellen Sanktionen: Wir haben uns zu Beginn der Existenz des Presserats entschieden, als höchste Sanktionsmöglichkeit zu wählen, dass wir in schlimmen Fällen von Grenzüberschreitungen öffentlich unter Namensnennung des Mediums darüber reden. Das ist etwas, was Zeitungs- und Zeitschriftenhäuser sehr ernst nehmen, weil niemand im Zusammenhang mit ethischer Regelverletzung öffentlich genannt werden möchte. Die Verhängung von Geldbußen stößt auf zwei Probleme. Zum einen müsste man Geldbußen in einer Höhe festlegen, die der wirtschaftlichen Leistungskraft des jeweiligen Verlagshauses entspricht. Mit pauschalen Bußgeldern würden Sie ein kleines Medium im Zweifelsfall um seine Existenz bringen und bei einem großen Verlagshaus könnte das aus der Portokasse bezahlt werden. Wenn Sie ein angemessenes Bußgeld verhängen wollten, müssten Sie einen immensen Aufwand betreiben, bevor sie es festsetzen können. Wenn es rein symbolischen Wert hätte, dann würde es keine Wirkung entfalten. Zum zweiten muss derjenige, der mit einer Geldstrafe in das Vermögen eines Dritten eingreift, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen mit einem umfangreichen Apparat dafür sorgen, dass er diese Bußgelder eintreiben kann. Aus dem Presserat würde dann eine Bußgeldbürokratie, die erstens niemand will und die zweitens auch niemand finanzieren könnte.

Zum 50. Jubiläum hatte Thomas Leif im Medienmagazin Zapp gesagt, die Zusammenarbeit im Presserat sei eine „Kungelei zwischen Tarifpartnern”, um „Konflikte einzuhegen”. Wie sehen Sie die Zusammenarbeit der Träger?

Diesen Vorwurf halte ich für nicht substanziert und Quatsch. Die Zusammenarbeit zwischen den Trägern des Presserats ist aus meiner Sicht gut. Wir haben uns dem gemeinsamen Regelwerk unterworfen – sowohl die journalistische Seite wie auch die verlegerische und das allein zählt. Wir sind in den Gremien, die den Kodex anwenden, den Beschwerdeausschüssen paritätisch vertreten mit Mitgliedern, die ein Mandat haben und das zeigt, dass die beiden Trägergruppen voll beteiligt sind. Wenn man sich die Entscheidungen anschaut, die wir regelmäßig mit Mehrheit oder einstimmig treffen, kann man auch leicht feststellen, dass es ein sogenanntes Bankverhalten – also die Konfrontation von verlegerischer Ethik und journalistischer Ethik – nicht gibt.

Dem Presserat wird vorgeworfen, seine Entscheidungen seien „intransparent”, weil er hinter verschlossenen Türen tagt. Warum ist die Öffentlichkeit nicht zugelassen?

In der Geschichte des Presserats haben wir einmal einen Versuch gemacht, eine Teilöffentlichkeit herzustellen. Angehörige von den Opfern des Absturzes der französischen Concorde im Jahr 2000 nahmen an der Sitzung teil, in der wir uns mit den Beschwerden über die Berichterstattung befassten. Wir haben das ausgewertet und festgestellt, dass es für die Entscheidungsfindung im Presserat keine Vorteile bringt, dass der Zeit- und Ressourcenaufwand immens groß ist. Es war eine pragmatische Entscheidung zu sagen, das bisher praktizierte Verfahren ist völlig ausreichend. Es ist transparent für die Beteiligten, also Beschwerdeführer und Redaktionen. Und es ist obendrein transparent für die Öffentlichkeit, indem wir Entscheidungen auf der Homepage angemessen präsentieren.

Aber die Öffentlichkeit scheint ja doch Interesse an aktuelleren Informationen zu haben, zumal wenn so brisante Themen wie der Umgang mit dem Diskriminierungsverbot nach der „Kölner Silvesternacht” verhandelt werden. Warum gibt es da keine Pressekonferenz?

Das war ein Presseecho, ein Interesse der Medien, das wir in diesem Umfang nicht erwartet hatten. Im Nachhinein, bei rückschauender Betrachtung, hätten wir das besser machen können. Noch einmal zur Transparenz und Öffentlichkeit solcher Beratungen: Der Vorwurf der Intransparenz wird gerne erhoben mit dem versteckten Vorwurf, der Rat habe irgendetwas zu verbergen. Das ist eine grundlose Befürchtung. Im Zweifelsfall würden die Beteiligten Alarm schlagen, wenn wir dort etwas vertuschen würden. Und im Übrigen legen wir der Öffentlichkeit ja auch auf der Homepage und im Einzelfall auch in Pressekonferenzen oder Pressemitteilungen darüber Rechenschaft ab, was wir tun. In jedem Fall wollen wir bei den Verhandlungen über Beschwerden vermeiden, dass Mitglieder, Beteiligte, die möglicherweise nicht für Mikrofon und Kamera trainiert sind, entweder mit ihrer Meinung zurückhalten oder andere Beiträge für das Publikum abliefern.

Kritiker berufen sich gern auf die Öffentlichkeit von Strafverfahren als Beispiel. Sie übersehen dabei, dass die Beratungen der Gerichte bzw. Jurys über Schuldig und Nichtschuldig sowie über die Strafe aus guten Gründen nichtöffentlich stattfinden. Lediglich die Beweisaufnahme und Plädoyers sind öffentlich. Das findet beim Presserat alles schriftlich statt. Die Form, die wir gewählt haben, führt nach meiner Erfahrung in drei Amtsperioden und nach knapp 30 Jahren Mitgliedschaft im Presserat zu sehr sachlichen und zielgerichteten Beratungen mit insgesamt sehr tragfähigen Ergebnissen.

Im Zusammenhang mit der „Kölner Silvesternacht” wurde im Presserat über die Ziffer 12.1 des Pressekodex diskutiert. Es gab den Beschluss, die Ziffer nicht zu ändern, aber den Redaktionen zusätzlich eine Handreichung als Unterstützung zu geben. Bisher ist noch kein entsprechender Leitfaden veröffentlicht. Ist die Debatte darüber noch nicht beendet?

Dieser Komplex hat sich als deutlich differenzierter herausgestellt, als wir vermutet hatten. Das Zeitziel war sehr ehrgeizig, aber der vom Plenum des Presserats erteilte Auftrag wird auf jeden Fall umgesetzt. Welche Form diese Handreichung am Ende haben wird, ist noch zu entscheiden. Wir denken darüber nach, dass wir vielleicht eine Kombination haben – aus Handreichung und dem Angebot, in Workshops mit Redaktionen die Umsetzung dieser Ziffer in der Praxis zu trainieren.

Der Presserat hat sich auf die Veränderungen durch die Digitalisierung eingestellt und den Pressekodex um onlinespezifische Aspekte ergänzt. Sollte die Trägerstruktur nicht auch angepasst werden und das Publikum, d. h. die Rezipient_innen im Presserat vertreten sein?

Die Öffentlichkeit ist in unserem System der wirkliche Wächter über die Ethik der Medien, denn die Leserinnen und Leser, die anderen Mediennutzer_innen sind diejenigen, die sich beschweren und über deren Beschwerden der Presserat dann in einem Verfahren entscheidet. Völlig unabhängig vom Publikationsmedium ist Kernbestandteil der Presseratskonstruktion, dass das Publikum seine Rolle hat, aber es ist keineswegs notwendig – um es mal in einer Analogie auszudrücken – dass der Ankläger auch im Gericht sitzt.

Schon lange wird ein Medienrat für alle – Presse, Online, Rundfunk – diskutiert. Warum arbeiten die verschiedenen Organe der Medienselbstkontrolle nicht stärker zusammen?

Es gibt eine unabhängige Medienselbstkontrolle bisher nur als Presserat, soweit es die redaktionell-journalistischen Inhalte angeht. Die anderen Medien sind entweder durch Gesetz reguliert und haben eigene Gremien, die diese Aufgabe übernehmen – also bei den Öffentlich-Rechtlichen die Rundfunk- und Fernsehräte bzw. die Intendanten, bei den Privaten die Landesmedienanstalten. Bei den Social Media im Internet haben wir bisher überhaupt keine bis auf einige einzelne Anbieter, die sogenannte Hausregeln entwickelt haben. Die Zusammenarbeit all dieser Kontroll- und Selbstkontrolleinrichtungen in einem übergeordneten System ist vielleicht eine reizvolle Vorstellung, aber wenn jeder seine Arbeit machen würde und wenn vor allem die sozialen Medien im Internet ihre eigene Regulierung finden würden, dann wären wir schon einen Schritt weiter. Was aber in jedem Fall schon als einigendes Band funktioniert, das ist die Tatsache, dass der Kodex, also das Regelwerk des Deutschen Presserats für ordentlichen Journalismus, mittlerweile von allen Medien als Leitlinie, als Richtschnur akzeptiert und auch angewendet wird.

Was würden Sie sich als dju-Vertreter und Journalist für die zukünftige Presseratsarbeit wünschen?

Drei Dinge: Dass das Publikum wachsam bleibt. Dass die Redaktionen, die Journalisten und Verleger, ebenso wachsam bleiben und vor allen Dingen in den ethischen Bedingungen ihrer Arbeit Kurs halten. Weil wir alle der Überzeugung sind, dass das Hauptbetriebskapital eines marktfähigen Journalismus die Glaubwürdigkeit ist und zur Glaubwürdigkeit gehört nicht nur, dass die Fakten stimmen, sondern auch, dass die Medien ihrer Verantwortung gerecht werden, die sich aus der schlichten Tatsache ergibt, dass man Journalismus auch missbrauchen kann.

Ein Bericht über den Festakt zum 60. Jubiläum des Presserats und eine Chronik auf M Online

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