Die, „die die Fresse am weitesten aufreißen“ – Journalist*innen, Künstler*innen, Kulturschaffende – sieht Olaf Kröck, Intendant der Ruhrfestspiele, am meisten gefährdet, Zielschiebe von „Digital Fascho – Hate Speech im Internet“ zu werden. Doch wurden in einer Online-Debatte während der aktuellen Festspiele in Recklinghausen auch Ursachen erforscht und Möglichkeiten ausgelotet, mit allen guten Willens im Gespräch zu bleiben.
Auf die Frage von Moderatorin Alexandra Conrads bekannten die meisten Diskussionsteilnehmer*innen am 19. Mai, persönlich noch nicht von Hasstiraden aus dem Netz betroffen gewesen zu sein. Doch gäbe es zahlreiche berufliche Bezüge. So berichtete Monique Hofmann, Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union in ver.di (dju) von zunehmender Bedrohung, der Kolleg*innen im Netz ausgesetzt seien, aber auch von verbalen und tätlichen Angriffen gegen Medienvertreter bei Demonstrationen, etwa von Corona-Leugnern und Querdenkern. Menschen, die den demokratischen Gesellschaftsentwurf – „offen, frei, tolerant“ verteidigten, liefen zunehmend Gefahr, ins Visier rechter Gewalt zu geraten. Das beträfe auch speziell Frauen und People of Colour, die sich öffentlich für Feminismus, Antifaschismus und Diversity stark machten und dafür privat gedoxt und beschimpft würden. „Wenn es nicht gelingt, sie zu schützen, dann droht uns, dass sie verstummen. Und wir dürfen diese Stimmen nicht verlieren!“, mahnte Hofmann.
Bestimmte Gruppenzugehörigkeiten – „egal ob Muslime, Vegetarier oder Katzenliebhaber*innen“ – reichten aktuell bereits aus, ins Visier von anderen Gruppen zu geraten, und Hate Speech sei kein bloßes Jugendphänomen, analysierte Aycha Riffi, Leiterin der Grimme-Akademie. Es sei immer noch eine Frage gesellschaftlicher Aushandlung und die Grauzone groß, was unter „Hass“ im Netz und der Öffentlichkeit aktuell zu verstehen sei. Aus ihrer Sicht sei mit dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ eine Grenze überschritten worden, seither sei auch in Deutschland ein Hassphänomen „explodiert“, das sich nicht mehr nur im Netz austobe, sondern auch in Gewalthandlungen umschlage.
Es gibt keine Nichtbetroffenen
Bei Todesdrohungen, wie sie sie bekommen habe, „ist jede Debatte beendet“, erklärte die Kabarettistin Idil Baydar, die auch ins Visier des sogenannten NSU 2.0 geriet. Polizei und Justiz warf sie wegen unzureichendem Schutz gar „Organversagen“ vor. Sie geißelte die schleichende Zersetzung absoluter humanistischer Werte: „Faschismus ist keine Meinungsäußerung und nicht wählbar.“ Sich zurückzuziehen sei für sie jedoch keine Alternative. Sie sei zu der Erkenntnis gelangt, „dass hinter Hass Angst steht“. Die Gesellschaft solle sich fragen, „wo kommt diese Angst her und wer schürt sie?“.
Intendant Olaf Kröck plädierte für differenziertes Vorgehen und verbales Abrüsten, forderte, hierzulande „eine viel diversere Normalität“ zu repräsentieren und ins Rampenlicht von Theaterbühnen und Fernseh-Talkshows zu stellen. Er riet „auch mal die eigene Panzerung zu hinterfragen und besser zuzuhören: Was treibt die anderen an, die noch nicht verloren sind?“. Ihn habe Max Czolleks Streitschrift „Desintegriert Euch!“ angeregt, eine vorschnelle Täter-Opfer-Dynamik genauer zu hinterfragen.
Emotionale Diskurse auch emotional zu behandeln und nicht „zu ver-intellektualisieren“, ja mehr „mit dem Herzen zu denken“, forderte Idil. Es gebe keine Nichtbetroffenen. „Im Grunde geht es um eine einzige Sache: um Wertschätzung.“
Tatsächlich dürfe es in solchen Aushandlungsdebatten „nicht immer ums Gewinnen“ gehen, pflichtete Aycha Riffi bei. Die Gesellschaft müsse einiges aushalten, aber auch Grenzen setzen und „bis hierhin und nicht weiter!“ sagen. Man habe in einer gewissen Naivität im Netz anfänglich „an vielen Stellen den falschen Leuten das weiße Blatt überlassen“. Noch heute sei die Mehrheit stumm, während sich Kommentatoren vom Rand der Gesellschaft immer radikaler äußerten.
Positive Zeichen
Im Gespräch zu bleiben, fordert Monique Hofmann und „Orte zu erhalten und zu schützen, wo Diskurs stattfindet“. Dazu – das zeigten Beispiele aus Ungarn und Polen – sei eine kritische Medienöffentlichkeit unbedingt nötig. Sie nannte positive Zeichen hierzulande wie Gesetzesinitiativen gegen Hass im Internet, Strafverschärfungen und die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Schrittweise Wirkung zeigten Gespräche und Schulungsangebote für die Polizei, Journalist*innen besser zu schützen. Auch Medien-Arbeitgeber seien stärker in die Pflicht zu nehmen. Einige gingen mit gutem Beispiel voran und handelten gemäß einem kürzlich etablierten Schutzkodex für Journalist*innen.
Schließlich brauche es nach wie vor die Stärkung von Medienkompetenz. Keine Berufsgruppe sei frei von Beeinflussung, alle trügen gleichermaßen Verantwortung, ergänzte Aycha Riffi und verwies auf die Notwendigkeit verstärkter Bildungsangebote, aber auch auf Initiativen wie „Verfolgen statt nur Löschen“ oder zivilgesellschaftliche Angebote wie die Internetplattform, „Hass hilft“ in Nordrhein-Westfalen.
Die Online-Debatte fand im Rahmen der Diskussionsreihe „Partei ergreifen“ der Ruhrfestspiele Recklinghausen statt, die erstmals online veranstaltet werden und 2021 zu ihrem 75. Jubiläum unter dem Motto „Utopie und Unruhe“ stehen. Neben Theateraufführungen sind dort bis zum 9. Juni noch zwei weitere Online-Debatten auf dem Programm.