Was ausfällt, fällt aus?

Correctiv lässt in Dortmund Schule öffentlich checken

Dopingpraktiken, Krankenhauskeime, Spendengerichte, Sparkassen-Durchleuchtung oder „Euros für Ärzte” – Allianzen von Pharmaindustrie und Medizinern – das waren Themen, mit denen Correctiv, das „erste gemeinnützige Recherchezentrum im deutschsprachigen Raum” bereits Daten und Erkenntnisse lieferte, die Aufsehen erregten, weit verbreitet und mit Medienpreisen bedacht wurden. Folgen Correctiv-Recherchen einem Schema? Welche Zutaten sind obligatorisch? Woher kommen Ideen und Partner? Wie viel Personal steckt hinter einem Projekt und wie viel Technik? Und geht es nur um Daten? Zu erklärten Prinzipien des Portals gehört es, Quellen zu nennen und die eigene Arbeitsweise transparent zu machen.

„Unterrichtsausfall – Der Check” ist am 1. März in Dortmund gemeinsam mit den Ruhr Nachrichten gestartet. Ein Entwickler und der Correctiv-Redaktionsleiter im Ruhrgebiet sind aktuell fast vollzeit mit dem Projekt beschäftigt. Jonathan Sachse kümmert sich um die Konzeption und betreut dazu die sozialen Netzwerke. Hintergrund: Das Landesschulministerium erklärte auf Basis von Stichproben, dass 2016 in Nordrhein-Westfalen lediglich 1,8 Prozent aller Unterrichtsstunden ersatzlos ausgefallen seien. Gefühlt stellt sich das oft anders dar. Was stimmt? „Eine sehr klare Frage”, so der Journalist. Doch für die Antwort fehlt bislang selbst bundesweit die Datenbasis. Schüler, Eltern und Lehrer sollen nun mithelfen und die Daten zum Check liefern. Da Schulthemen allgemein sehr interessieren, rechnet man beim Rechercheteam mit ausreichend Begeisterung fürs Mitmachen und einem zügigen Ablauf. Nach der Entscheidung für Dortmund bot sich der Lokalmatador als stärkster und flächendeckender Medienpartner an.

Die Ruhr Nachrichten haben bereits im Vorfeld ausführlich für das Projekt geworben und knüpfen eigene Berichterstattung daran. Was für Correctiv bei der Themenwahl auch ausschlaggebend war: „Wir haben schon 2015 bei unseren Recherchen zu den Sparkassen die Plattform für eine virtuelle Redaktion mit der FAZ geschaffen und uns bundesweit mit Lokalredaktionen vernetzt. Nach diesen Erfahrungen wollten wir den Crowd Newsroom weiterentwickeln und haben gezielt ein Projekt gesucht, das zu dieser Plattform passt”, erläutert Sachse. Seit dem 23. Februar ist der Room freigeschaltet für alle, die im März Ausfallstunden melden wollen. 208 waren es am Starttag. „Wir haben nicht den Anspruch, das dann für alle Schulen oder gar Klassen belegen zu können, aber wir wollen mehr über die Realität herausfinden.”

Der Unterrichtsausfall-Check werde als Prozess gesehen, aus dem sich auch weiterführende Fragestellungen ableiten lassen, etwa: welche Qualität hat Vertretungsunterricht. Der Reporter: „Wir wollen ohne Aktionismus gern auch Lösungswege debattieren und am Ende zumindest eine Meinung zu den Ergebnissen vertreten.” In welchem Maße es dabei gelingt, Öffentlichkeit zu schaffen und wie sich Ministerium und Schulen konkret positionieren werden, ist für ihn dennoch „ein Experiment” mit offenem Ausgang. Vorab wurden alle Schulen informiert, Flyer an Haushalte verteilt, eine Auftaktveranstaltung gemeinsam mit den Ruhr Nachrichten organisiert, soziale Medien eingebunden. Regelmäßig erscheint ein Newsletter. „Wir wollen auch Schülerzeitungen in Dortmund einbeziehen, sie als Multiplikatoren nutzen. Die Redaktionen können direkt auf unsere Ergebnisse zugreifen und wir wollen ihnen helfen, eigene Themen daraus abzuleiten.” Das sehe man zugleich als Beitrag, die Medienkompetenz zu stärken.

Bei anderen Projekten habe Correctiv oft Experten­hilfe benötigt, um die erlangten Datenmengen zu verifizieren und zu deuten. Am besten von Personen, die auch im Alltag mit solchen Daten umgehen. Expertise von außen werde man beim Schul-Check wohl nicht benötigen. Doch prüfen werde man die Daten schon. Zunächst innerhalb der Community. Im zweiten Schritt – und zwar zeitnah einmal wöchentlich – würden die Schulen selbst mit den Ergebnissen konfrontiert. Sachse liegt daran, früh miteinander ins Gespräch zu kommen. Er ist gespannt, auf wie viel Kooperationsbereitschaft man stoßen wird. Schließlich sei auch in NRW Wahljahr und Qualität von Bildung ein Politikum. Bleibt die Frage nach der Auswertung. „Klar werden wir so etwas wie Ranglisten aufstellen und die zehn besten oder ausfallanfälligsten Schulen finden. Man kann das auch weiter aufgliedern und nach Jahrgängen oder Fächern fragen, in denen besonders viel ausfällt. Da knüpfen sich Fragen nach der personellen Besetzung und ähnliche an”, meint Jonathan Sachse. Er hofft auch auf überraschende Resultate, die animieren würden, nicht nur die klassischen Wege zu gehen, sondern „quer zu denken”, neben Schüler- vielleicht auch Straßenzeitungen einzubeziehen. Natürlich könne er sich auch eine Übertragung auf andere Städte oder Regionen vorstellen – gemäß dem Prinzip, dass Correctiv-Recherchen gemeinnützig erfolgen und Ergebnisse kostenfrei weitergegeben werden. Insgesamt, schätzt Sachse, werde das Projekt ihn und zwei Kollegen – bei zeitweiser Mithilfe anderer – mehr als ein halbes Jahr beschäftigen. Und danach? „Wir haben das Ziel, den Crowd Newsroom offen zu halten und technisch noch weiter zu nutzen.” Dafür gibt es eine Medienprojekt-Finanzierung von Google. Der Gigant mische sich jedoch inhaltlich in keiner Weise ein.

Generell sei das Correctiv-Team bei der Ideenfindung sehr offen. Hinweise würden gern aufgenommen, doch wolle man nicht auf fremde Themen aufzuspringen, sondern bewusst Flecken beackern, die andere eher links liegen lassen. Zweimal im Jahr stecke man auf einer Klausur auch eher längerfristige Themenfelder ab. Deshalb sollte es nicht überraschen, wenn Correctiv-Rechercheure demnächst die Unabhängigkeit von Polizei und Justiz oder die ungerechte Arbeitswelt schärfer in den Blick nehmen.


 Links:

https://correctiv.org

http://www.unterrichtsausfall-check.de/


 

Correctiv – Recherchen für die Gesellschaft

Correctiv wurde im Juni 2014 als gemeinnützige GmbH gegründet. Die Anschubfinanzierung von 3 Millionen Euro kam von der Essener Brost-Stiftung, auch die laufende Finanzierung erfolgt über Spenden von Bürgern und Stiftungszuwendungen.

Das journalis­tische Rechercheportal mit Sitz in Essen und einem Büro in Berlin beschäftigt 16 festangestellte Mitarbeiter­_innen und arbeitet mit Freien zusammen. Inhalte reicht correctiv.org in Kooperationen an große und kleine Zeitungen oder Radio- und Fernsehsender weiter. Seit Januar bringt das Recherchezentrum mit türkischen Kollegen auch die zwei­sprachige Website „Özgürüz” heraus.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

„Das Problem mit der Leidenschaft“

Lena Hipp ist Professorin für Soziologie an der Universität Potsdam und leitet die Forschungsgruppe „Arbeit und Fürsorge“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Mit M sprach sie über „Gute Arbeit“, Stressoren im Journalismus und weshalb die Trennung von Arbeit und Privatleben für Medienschaffende so wichtig ist.
mehr »

Dreyeckland-Journalist wegen Link angeklagt

Am 18. April beginnt der Prozess gegen den Journalisten Fabian Kienert. Dem Mitarbeiter von Radio Dreyeckland in Freiburg wird die Unterstützung einer verbotenen Vereinigung vorgeworfen, weil er das Archiv eines Onlineportals in einem Artikel verlinkt hat. Das Portal mit Open-Posting-Prinzip war von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) 2017 als kriminelle Vereinigung verboten worden.
mehr »

Die Verantwortung der Redaktionen

Auf die mentale Gesundheit zu achten, ist keine individuelle Aufgabe. Auch Arbeitgeber*innen können und sollten etwas für psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen tun. Wie funktioniert das in einer Branche, die so geprägt ist von Zeit und Leistungsdruck und belastenden Inhalten wie der Journalismus? Wir haben uns in zwei Redaktionen umgehört, die sich dazu Gedanken gemacht haben: das Magazin Neue Narrative und der Schleswig-Holsteinische Zeitungsverlag (SHZ).
mehr »

Gewalterfahrung im Lokaljournalismus

In Deutschland hat sich die Zahl der gewalttätigen Übergriffe auf Journalist*innen deutlich erhöht. Viele der Übergriffe finden am Rande von Demonstrationen statt. Der Thüringer Journalist Fabian Klaus recherchiert zu Rechtsextremismus und wird deshalb bedroht. Mit M sprach er über zunehmende Bedrohungslagen im Lokaljournalismus und die Unterstützung aus den Redaktionen.
mehr »