Wenn Christian Drosten und Attila Hildmann in der Corona-Berichterstattung gleichermaßen zu Wort kommen, ist das eine „false balance“, denn journalistische Ausgewogenheit kann fatale soziale Folgen haben. Diese These ist Kern eines der vielen Themen der virtuellen Jahrestagung des Netzwerks Medienethik. Dort wurde ausgelotet, wie wissenschaftliche Erkenntnisse medial so vermittelt werden können, dass sie dem Gemeinwohl orientierten gesellschaftlichen Diskurs dienen.
Was in der Berichterstattung „false balance“ bedeutet, illustrierte die Kölner Journalistik-Professorin Marlis Prinzing am Beispiel von Corona und Querdenken-Bewegung. Als „fehlgeleitete Ausgewogenheit“ verschaffe sie Akteur*innen „mehr Aufmerksamkeit als es ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entspräche“ und könne Schaden anrichten, “indem faktenbasiertes Handeln beeinträchtigt wird“. Bekannt ist diese verzerrte Gewichtung aus der Klimaberichterstattung. Wenn Leugner*innen des menschengemachten Klimawandels genauso oft zu Wort kommen wie die deutliche Mehrheit der Forscher*innen, die ihn als gesicherten Befund einstufen, dann werde ein „Unentschieden zwischen Pro und Contra suggeriert“, so Prinzing.
Falsche Kompromisse
Welche Folgen eine Gleichbehandlung von wissenschaftlichen Minder- und Mehrheitspositionen von Forscher*innen in den Medien hat, erklärte der Virologe Christian Drosten bereits im Juni 2021 in einem Interview: „Das Problem daran ist nämlich, dass die Politik sagt: Naja, dann wird die Wahrheit in der Mitte liegen.“ Dieser „falsche Kompromiss“ führe zu „einer halbherzigen Lösung“ und „die verzeiht dieses Virus echt nicht“.
Journalist*innen sind verunsichert, wie sie Forschungsergebnisse gewichten und mit dem gespaltenen Publikum umgehen sollen. Doch ein „Alle-zu-Wort-kommen-lassen ist nicht unbedingt ein Qualitätskriterium, sondern kann auch ökonomisch getrieben sein“, so Prinzing mit Blick auf einen „Spiegel“-Artikel über Corona-Leugner Attila Hildmann von 2020, den das Magazin als einen der „meistgelesenen des Jahres“ anpreist.
Aus medienethischer Perspektive problematisierte Sascha Borowski, Sprecher des Presserats, in einem Post, dass “Corona-Spaziergänger“ so viel Platz in der Berichterstattung einnehmen: „Sollte man diese 80 Zeilen plus Bild jeden Montag nicht eher den 85 Prozent der Menschen widmen, die – mehr oder weniger zähneknirschend – solidarisch mithelfen, diese Pandemie in den Griff zu bekommen?“
Orientierung durch den Pressekodex
Normative Orientierung beim Umgang mit dem Problem der „false-balance“ biete der Pressekodex in Richtlinien zu Wahrhaftigkeit, Sorgfalt, Richtigstellung, Diskriminierung und Medizinberichterstattung, so Prinzing. In einer explorativen Studie untersuchte sie, wie sich „die multiple berufsethische Verantwortung“ in der Berichterstattung über die Querdenken-Bewegung niederschlägt, die sich 2020 gegen die Corona-Maßnahmen formierte. Zehn Journalist*innen aus überregionalen Medien wie ARD, „taz“, „Bild“ oder „Cicero“ wurden in Leitfadeninterviews zu „false balance“ in ihrer Berichterstattung über die Querdenken-Szene befragt.
Acht von ihnen sehen kein Risiko einer fehlgeleiteten Ausgewogenheit und argumentieren, die Querdenken-Bewegung habe „die quantitativ richtige Aufmerksamkeit bekommen als Minderheit“, die Relevanz des Themas sei so groß, dass viel Berichterstattung darüber durchaus legitim sei. Einordnung der Demos und Differenzierung der Teilnehmenden verhindere eine „false balance“ und fördere ein „authentisches Abbilden der Wirklichkeit“. Extreme Strömungen müssten zwar kritisiert werden, um den Zulauf zur Bewegung zu stoppen, aber es müsse auch eine „Integrationskraft“ geben – durch Fragen nach den Beweggründen der Querdenkenden und „gemeinsamen Linien“. Die Handlungsempfehlungen der Befragten variierten aufgrund persönlicher Einstellung und journalistischem Rollenverständnis. Einigkeit bestehe darin, „dass eingeordnet, kontextualisiert und differenziert werden muss“.
Mehr Expertise und Reflexion
Prinzing interpretiert die Befunde als „grundsätzliche Reflexionsbereitschaft über das eigene Vorgehen und auch über die gesellschaftliche Aufgabe von Journalismus in Demokratien“, wobei die Sozialisations- und Integrationsfunktion der Kritikfunktion übergeordnet werde. Sie plädiert für mehr „sachgerechte Ausgewogenheit“ in der Berichterstattung – etwa Gruppen proportional nach gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zu gewichten oder nach Belegen für ihre Position. Dabei müsse man aber sensibel für Diskriminierung etwa der „voiceless“ bleiben. Außerdem gelte es, zum Beispiel zwischen Ausgewogenheit in der Politik- und Wissenschaftsberichterstattung zu unterscheiden: Geht es um Aussagen von „Menschen mit starken Meinungen“ oder „mit überzeugenden wissenschaftlichen Beweisen“? Prinzing resümierte, als „Generalisten“ bräuchten Journalist*innen mehr wissenschaftliche Expertise und sollten stärker über ihre Rolle reflektieren, um sich nicht durch Angriffe verunsichern zu lassen.
Auch andere Vortragende problematisierten, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in den Medien als gleichwertig dargestellt werden – besonders bei digitaler Verbreitung. „Alternative Fakten“ hätten auf Plattformen „ein leichtes Spiel“, so Michael Litschka zur Thematisierung der CO2-Reduktion und Volker Banholzer warnte, auch „Technikfolgenabschätzung ist normativ gebunden“. Beatrice Dernbach wies in einer Framing-Analyse nach, dass sich die Corona-Berichterstattung Anfang 2020 in einem politischen Deutungsrahmen bewegt und weniger wissenschaftliche als regierungsamtliche Quellen zitiert. Sie forderte eine stärkere Reflexion der redaktionellen Abläufe und journalistischen Rolle. Lars Rademacher stellte bei einer Befragung von Journalist*innen zu berufsethischen Normen fest, dass die Notwendigkeit neuer Standards umstritten ist, viele den Pressekodex aber um Richtlinien zur Wissenschaftsberichterstattung ergänzen möchten.
Annette Leßmöllmann, Professorin für Wissenschaftskommunikation, plädierte im Gespräch mit Marlis Prinzing für wissenschaftsjournalistische Kernkompetenzen in allen Ressorts. Bei großen Zukunftsthemen wie Pandemie, Klimawandel oder Digitalisierung suche die Politik Orientierung und da dürfe man Pseudowissenschaftlichkeit nicht durch fehlgeleitete Ausgewogenheit bedienen. Journalist*innen müssten beurteilen können, wie evident Belege für Aussagen sind und kritisch bei der Expertenauswahl sein. Da Wissenschaft „keine Faktenmaschine“ und „extrem politisch“ sei, müssten Forschungsmethoden transparent gemacht und auch gegenläufige wissenschaftliche Ansätze vorgestellt werden – aber immer „mit geschärften Sensoren für Bullshit“.