Zwei Neuerscheinungen im Comic-Format liefern aktuelle Bild-Text-Reportagen und beleben so den Fotoroman neu. Vor allem der Bericht von mehreren Reisen an die EU-Außengrenze beeindruckt mit authentischem Bildmaterial und gewonnenen Erkenntnissen. Der Band überzeugt zusätzlich durch die enge Verknüpfung von Bild und Text.
Die Avant-Verlagswerbung gibt sich marktschreierisch: „Dieses Buch basiert nicht auf realen Ereignissen – es IST die Realität.“ Gut, für einen Comic-Verlag ist ein Buch wie „Der Riss“ schon besonders realistisch. Als Illustrationen, im Comic Panels genannt, dienen nämlich Fotos. Die sind zwar durch die grafische Überarbeitung grobkörnig und wie mit einem Schleier belegt, aber immer noch klar als Fotos erkennbar und damit realistischer als jede Zeichnung.
Mit dem „Riss“ ist die EU-Außengrenze gemeint, wobei der (im Buchtitel erstgenannte) Fotograf Carlos Spottorno und sein Autor Guillermo Abril argumentieren, dass dieser Riss mit Rissen innerhalb der EU zusammenhängt. Die beiden Journalisten waren 2013 bis 2016 zu einer Reihe von Reportagereisen aufgebrochen für das Wochenmagazin von „El País“, Spaniens größter qualitätsorientierter Zeitung, um das Geschehen an verschiedenen Rändern der EU zu dokumentieren. Danach wollten sie eine Sammlung ihrer Fotos und Berichte veröffentlichen. Um detaillierter erzählen zu können und noch mehr Publikum zu erreichen, als das mit einem reinen Fotoband möglich gewesen wäre, wählten sie das Format des grafischen Romans. Bild und Text sollen gleichberechtigt sein, sagt Spottorno in einem im Buch enthaltenen Interview.
So ist der Band nach den Regeln der Comic-Kunst gestaltet. Jede der großformatigen rund 170 Seiten sieht anders aus. Meist präsentieren sie vier oder fünf Bilder, es können aber auch acht sein oder nur ein einziges. Aus 25 000 Fotos hat Spottorno ausgewählt, je nach Bedeutung auch mal nur Ausschnitte. Die Panels werden von kleinen weißen Kästen mit Abrils Texten überlappt.
Das Ergebnis weicht über weite Strecken formal kaum von üblichen Fotobüchern mit erläuternden Texten ab. Oft gelingt es hier aber, dass die Bildsequenzen, beziehungsweise Doppelseiten, schon selbst etwas erzählen. In dieser überlappenden Form ist die Bild-Text-Kombination vermutlich auch leichter konsumierbar.
Inhaltlich ist „der Riss“, die Grenze zwischen der sicheren und der unsicheren Welt – wie diverse Flüchtlinge den Autoren sagen – sowieso brutal interessant. Die Schauplätze sind: Melilla, Marokko, Lampedusa, Sizilien, das Mittelmeer (inklusive großer Rettungsaktion und Innenansichten einer wohl eher unbekannten Grenzstation innerhalb eines italienischen Marineschiffs auf hoher See), Ungarn, Kroatien, Griechenland, Bulgarien, Litauen, Lettland, die Ukraine, Polen, Finnland (auf Skiern bei minus 30 Grad). Sowohl Grenztruppen als auch Flüchtlinge kommen ausführlich zu Wort. Und in Nordosteuropa bricht der Konflikt zwischen der NATO und Russland ins Flüchtlingsthema ein.
Bereits 2015 ist im Züricher Graphic Novel-Verlag Edition Moderne der Comic „Der Fotograf“ erschienen, bei dem die Zeichnungen auf den Fotos eines Dokumentarfotografen beruhen. Die Verschmelzung von Foto und Comic wird bisher nicht oft praktiziert. Immerhin, eine weitere Neuerscheinung probiert sich jetzt daran: Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer sind 2016 bei der Hilfsorganisation SOS Méditerranée mitgefahren und haben die Rettung von auf dem Mittelmeer treibenden Flüchtlingen miterlebt. In dem Band „Liebe deinen Nächsten“, den der Bielefelder Splitter Verlag herausgegeben hat, sind Eickmeyers angenehm colorierte, große Zeichnungen – höchstens vier auf einer Seite – ebenfalls sichtlich an Fotos angelehnt. Allerdings illustrieren sie vor allem den Text, oder bilden Personen ab, Handlungssequenzen zeigen sie nur sehr selten. Es handelt sich insgesamt eher um ein Bilderbuch.
Guillermo Abril, Carlos Spottorno,: Der Riss, Avant, 184 Seiten, Hardcover, 32 Euro, ISBN: 978-3-945034-65-1;
Gaby von Borstel, Peter Eickmeyer: Liebe deinen Nächsten, Splitter, 128 Seiten, Hardcover, 24,80 Euro, ISBN: 978-3-95839-415-5