Vitus

Eine Metapher für die Freiheit

„Vitus“ ist ein außergewöhnlicher Junge, der schon als Sechsjähriger pianistische Fähigkeiten entwickelt wie ein kleiner Mozart. – Ein so genanntes Wunderkind, wie es auch die Stargeigerin Anne-Sophie Mutter oder der Weltklasse-Pianist und Dirigent Daniel Barenboim einmal waren. Der Schweizer Filmemacher Fredi M. Murer blickt jedoch hinter die glänzende Fassade eines solch Hochbegabten, dem die Musikwelt staunend zu Füßen liegt. Dabei geht es nicht nur um den Ehrgeiz einer Mutter, die ihr Kind mit mangelndem pädagogischen Einfühlungsvermögen unter Druck setzt, sondern auch um soziale Belastungen: Vitus gerät in eine Isolation, weil die anderen Jungen andere Interessen und einen anderen Musikgeschmack haben. Die Lehrer halten ihn, der auch ein Mathematik-As ist, für arrogant, die Schule will ihn loswerden.

Nur im Großvater, den Bruno Ganz grandios als liebenswerten, eigenwilligen Querkopf spielt, findet Vitus einen treuen Freund und Verbündeten. In seiner Schreinerei bastelt der Alte, der Zeit seines Lebens vom Fliegen träumt, Fluggeräte aus Holz, spendet Trost mit zauberhaft-poetischen Geschichten, erzählt, wie er selbst mit der Einsamkeit zurecht kommt, gibt behutsam Anregungen und Denkanstöße.
Der Junge sehnt sich nach einem Ort, an dem er jenseits artistischen Schaulaufens das Wahrhaftige der Musik entdecken kann. Ihn ertrotzt sich der clevere Einzelkämpfer mit einem märchenhaften Coup, der ihm ein Doppelleben ermöglicht: Er simuliert einen schweren Unfall, durch den er scheinbar seine besonderen Begabungen verliert, verschafft sich und seinem finanziell angeschlagenen Großvater Millionen mittels Börsenspekulationen im Internet, kauft sich ein eigenes Loft und einen Konzertflügel, auf dem er ungestört für sich allein üben kann. Und so wird der uralte Traum vom Fliegen, das Abheben vom Boden und das Gefühl des Loslassens unweigerlich auch zur Metapher von Freiheit. Zwar steht Vitus am Ende, wenn er sein Doppelleben wieder aufgibt, doch noch am Anfang einer Weltkarriere – allerdings aus eigenem Antrieb.
Verkörpert wird der kleine Held von dem 12-jährigen rumänischen Klavierwunder Teo Gheorghiu, der auch ein bisschen sich selbst spielt. Er bürgt nicht nur für Authentizität aller Klavierszenen im Film, sondern macht ihn zugleich zu einem besonderen musikalischen Erlebnis, denn das von ihm interpre­tierte Schumann a-moll-Konzert ist sein Konzertdebüt mit dem Zürcher Kammer­orchester unter Leitung von Howard Griffith.
En passant entlarvt der Film auch eine verkrustete, auf Karrieredenken ausgerichtete fragwürdige Musikpädagogik und hinterfragt die Konventionen des heutigen Musikbetriebs samt Klassikkrise, leistungsorientierten Wettbewerben und kommerziellen Interessen von Konzertveranstaltern. So ist dieser Film auch eine Hommage an die Musik selbst, die dann am schönsten und wahrhaftigsten erklingt, wenn sie aus innerer Leidenschaft und Überzeugung heraus erlebt und interpretiert wird.

R: Fredi M. Murer, D: Bruno Ganz, Teo Gheorghiu, Julika Jenkins, Urs Jucker. 122 Min.

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