Wo echte Mitbestimmung fehlt – Fragen an den Arbeitsrechtsexperten Helmut Platow
Nach Deiner Einschätzung, hat sich das Betriebsverfassungsgesetz bewährt?
Ja, unter dem Strich hat sich das BetrVG sehr bewährt. Es gibt natürlich immer Verbesserungsbedarf, aber allein die Tatsache, dass die Arbeit der Betriebsräte gesetzlich basiert mit Räumlichkeiten, Sachmitteln und Beratung finanziert wird, ist existenziell. Die festgeschriebenen betrieblichen Beteiligungsrechte sind auch im europäischen Vergleich beispielgebend.
Werden sie auch entsprechend genutzt?
Die Betriebsräte haben per Betriebsverfassungsgesetz gute Möglichkeiten, sich zu qualifizieren und zu wirksamer Interessenvertretung zu befähigen. Altgediente Betreuer und Berater von Betriebsräten wie ich stellen allerdings fest, dass im Durchschnitt die Qualifikation der Betriebsräte abgenommen hat. Bildungsangebote – auch die der Gewerkschaften – werden offenbar nicht so wahrgenommen oder sind nicht so wirksam wie früher. Über die Gründe will ich hier nicht spekulieren.
Reden wir über das Gesetz als solches. Wo wären denn Nachjustierungen dringlich?
Nach meiner Wahrnehmung in zwei Hauptbereichen: Zum einen hinsichtlich der Punkte, die Gewerkschaften schon vor der Novellierung 2001 gefordert hatten, die aber nicht umgesetzt wurden: Mehr Mitbestimmung bei Beschäftigungssicherung, bei Personalplanung und -bemessung, bei der Arbeitsorganisation, einschließlich Werkverträge, und beim Datenschutz. Da gibt es bislang nur Beratungs- und Informationsrechte, keine echte Mitbestimmung. Das wirkt sich im Arbeitsleben zunehmend negativ aus.
Der andere große Bereich hängt mit der Digitalisierung der Arbeitswelt und dadurch hervorgerufenen Veränderungen zusammen. Die Regelung von Arbeitszeiten und ihre Gestaltung werden dringlicher. Die eigentlichen technischen Entwicklungen haben natürlich auch beträchtliche Auswirkungen, die betreffen speziell Mitbestimmung nach § 87, Absatz 1, Nr. 6. Nachrangig, aber mit starkem Effekt, wirkt die Digitalisierung auch auf den Gesundheitsschutz.
Exzessives Outsourcing, die „Flexibilisierung“ von Arbeitszeiten und -orten sind Entwicklungen, die den Betriebsbegriff oder Arbeitnehmereigenschaften überhaupt betreffen. Erfordern sie auch Neuregelungen?
Ich habe das nicht besonders erwähnt, weil es eigentlich keine neuen Entwicklungen sind. In der Medienbranche begannen sie bereits in den 1980er Jahren, epochemachend beim Bauer-Verlag, wo Ausgliederungen von Spezialzeitschriften und Verlagsbereichen für die Beschäftigten zum sofortigen Wegfall von Betriebsvereinbarungen führten und damals noch nicht einmal Übergangsmandate für Betriebsräte galten. Die Arbeitgeberstrategien, Personalkosten zu verringern, sind ja mittlerweile sehr vielfältig: Gründung eigener Billigtöchter, Austritt aus dem Arbeitgeberverband, Reinholen von Dienstleistern und Werkvertragsunternehmen. Das alles beeinträchtigt die Arbeitnehmerseite und verursacht Auseinandersetzungen. Nehmen wir Springer, wo mit der Trennung von Digital und Print im vergangenen Jahr völlig neue Betriebseinheiten begründet wurden. Zwar hat man von Beginn an Gemeinschaftsbetriebe konstituiert, doch führt das zweifellos dazu, Arbeitnehmerrechte zu schwächen. Mitbestimmungsrechtlich – die Konstruktion des Gemeinschaftsbetriebes gibt es im Betriebsverfassungsgesetz seit 2001 – kommt man dagegen nicht an. Im Grunde müsste der Gesetzgeber Verbote aussprechen. Das ist natürlich illusorisch.
Betrachten wir genauer, was unter Arbeiten 4.0 gefasst wird. Personalplanung – mit eigenen oder fremden Kräften bis hin zu Crowdworkern – wird immer wichtiger. Was müsste für wirksame Interessenvertretung besser geregelt werden?
Betriebsräte sind generell nur für die eigene Belegschaft zuständig. Da in modernen Unternehmen immer mehr nach außen verlagert oder fremdvergeben werden kann, ist es wichtig, dass Betriebsräte echte Mitbestimmungsrechte erhalten: bei der Beschäftigungssicherung, der Umschulung und Qualifizierung eigener Leute, über den Zeitrahmen, in dem Veränderungen passieren sollen. Die bisherigen Regelungen in § 92 und 92 a BetrVG, wonach von Interessenvertretungen lediglich Vorschläge gemacht werden dürfen, reicht längst nicht mehr aus. Handlungsmöglichkeiten von Betriebsräten müssen ausgeweitet werden. Ihnen sollte ein Initiativrecht zur betrieblichen Weiterbildung eingeräumt werden, ebenso hinsichtlich von Techniken, die Leistungsüberwachung und Verhaltenskontrolle dienen.
Und die Flexibilisierung der Arbeit?
Zum Glück hat ja gerade der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, nicht nur Überstunden, sondern überhaupt die Arbeitszeit zu dokumentieren – letztlich begründet mit dem Gesundheitsschutz. Freilich erlaubt moderne Technik zunehmende Flexibilisierung, Stichwort Vertrauensarbeitszeit. Die führt aber sehr oft zu mehr Selbstausbeutung. Es ist richtig, dass Betriebsräte Arbeitszeiterfassung fordern. Mittlerweile gibt es intelligente Zeiterfassungssysteme, bei denen Beschäftigte auch keine Befürchtungen haben müssen.
Also weg mit Vertrauensarbeitszeit, Kontrolle ist besser. Dafür spricht auch die Regelung, die kürzlich bei der Märkischen Allgemeinen in Potsdam gefunden wurde…
Richtig. Ich selbst war schon vor Jahren an einer Arbeitszeitregelung bei der Nordwest-Zeitung in Oldenburg beteiligt. Der Vorsitzende der Einigungsstelle war sich seinerzeit noch unsicher, ob sich das Mitbestimmungsrecht bei der Lage der Arbeitszeit auch auf die Zeiterfassung erstreckt. Durch den EuGH-Spruch ist das jetzt eindeutig, niemand muss mehr auf den nationalen Gesetzgeber warten. Dennoch sollte das auch im Betriebsverfassungsgesetz klargestellt werden. Momentan gibt es dort „nur“ das gute Mitbestimmungsrecht zur Lage der Arbeitszeit, das die Festlegung der Arbeitszeit für jede einzelne namentlich benannte Arbeitnehmer*in einschließt, wenn man es durchsetzt. Bei Springer etwa achten Betriebsräte verstärkt darauf, dass die Dienstpläne gemäß § 87.1,2 korrekt und namentlich benannt sind. So können Interessenvertretungen zumindest indirekt auf die Personalbemessung Einfluss nehmen.
Die Einführung neuer Technik und Software, die Verhaltenskontrolle ermöglicht, ist mitbestimmungspflichtig. Zunehmend kommen IT-Lösungen aber gar nicht mehr aus dem eigenen Unternehmen, sondern werden eingekauft. Du selbst warst bei Springer an einer Konzernbetriebsvereinbarung beteiligt, die die Einführung von MS Office 365 regelt (M berichtete in Ausgabe 3/2018). Mitbestimmung bei solchen Prozessen ist eine echte Herausforderung?
Langfristig wird man die Einführung solcher Systeme nicht aufhalten. Die Frage ist also: Wie geht man damit um? Wie kann man mitgestalten? Bei Springer ging es inzwischen auch um die Einführung der Kommunikationssoftware SLACK. Zunächst in der Bild-Redaktion sollte sie auf freiwilliger Basis genutzt werden, ohne Betriebsratsmitsprache. Dagegen ist die Interessenvertretung vorgegangen. Inzwischen hat Springer zumindest eine Unternehmenslizenz erworben. Doch dass Updates einfach aufgespielt werden, ist auch hier Usus. Ähnliches gilt bei Vertriebssoftware wie Sales Force. Gegenwärtig wird zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung über beides verhandelt. Dafür brauchen Interessenvertreter schon ziemliches Expertenwissen.
Arbeitgeber müssten doch selbst großes Interesse daran haben, Hoheit über die genutzten Daten zu behalten?
Zum einen sagt man – und das mag zum Teil sogar stimmen – dass große IT-Konzerne -Entwicklungstempo und Sicherheitsaspekte solcher Software viel besser im Griff haben können. Allerdings zeigen meine Erfahrungen zugleich, dass Medienunternehmen die mit solchen Entwicklungen verbundenen Gefahren ziemlich geringschätzen. Sicherheitsrisiken bei Daten- oder Konkurrenzschutz nimmt man quasi in Kauf.
Und Mitbestimmung stört da auch?
Der Arbeitgeberseite ist das Mitbestimmungsrecht nach § 87.1,6 natürlich ein Dorn im Auge. Die Diskussion bei Unternehmen und Verbänden geht dahin, dass Mitsprache überhaupt nur noch dann gegeben sein soll, wenn es um die gezielte Auswertung von gewonnenen Leistungsdaten geht. So könnte man das Problem natürlich auch lösen…
Zum Arbeitnehmerdatenschutz steht bislang auch kein Wort im Betriebsverfassungsgesetz…
In Sachen Datenschutz haben Betriebsräte kein echtes Mitbestimmungsrecht. Sie sollen lediglich die Einhaltung der Gesetze überwachen. Etwas datenschutzrechtlich Problematisches im Unternehmen zu verhindern, haben sie keinerlei Handhabe – wenn nicht gleichzeitig Mitbestimmungsrechte nach § 87.11,6 greifen. Das ist ein Defizit. Ein eigenes Arbeitnehmerdatenschutzgesetz ist in dem Zusammenhang wichtig, das ja schon lange überfällig ist. Doch solche Regelungen kann man nach Lage der Dinge momentan eher aus Brüssel erwarten als aus Berlin. Auf europäischer Ebene gäbe es übrigens weiteren Regelungsbedarf… Im Zuge der internationalen Vernetzung großer Konzerne wie Springer, G+J, Bertelsmann sollten die europäischen Betriebsräte gestärkt werden. Bisher haben solche Gremien nur Informations- und Beratungsrechte. Von der EU ist hier eine Richtlinie für echte Mitbestimmung in europa- und weltweit tätigen Konzernen zu fordern.
Letztes Thema: Tendenzschutz. Der schränkt Mitbestimmungsrechte in Medienunternehmen seit jeher beträchtlich ein. Wo ist das besonders spürbar?
Betriebsräte haben keinerlei Beteiligungsrechte in wirtschaftlichen Fragen, es gibt keine Wirtschaftsausschüsse wie anderswo nach §106f. BetrVG. Das betrifft vorrangig Informationsrechte. Alles, was große Medienunternehmen laut Bilanzrecht in ihren Geschäftsberichten offenzulegen haben, müssen sie dem eigenen Betriebsrat nicht mitteilen. Das ist doppelt absurd. In sozialen Fragen sind Einschränkungen weniger gravierend. Es gibt Mitbestimmungsrechte für Redakteurinnen und Redakteure bei der Lage der Arbeitszeit. Die muss man freilich nutzen. Probleme sehe ich dagegen bei personellen Maßnahmen, bei der Einstellung und Versetzung von Tendenzträgern. Hier kann der Arbeitgeber Macht ausüben und Leute unter Druck setzen. Ein aufmüpfiger Redakteur aus dem Haupthaus lässt sich per Direktionsrecht in die entfernteste Lokalredaktion versetzen, ein Widerspruch des Betriebsrates hat keine Rechtswirkungen.
Tendenzschutz und Gewinnerzielung bei Medien – kippt da nicht ohnehin immer mehr die Balance?
Springer verdient in Deutschland mittlerweile das meiste Geld nicht mehr mit Bild, sondern seinem Stellenportal StepStone. Madsack versucht sich in Leipzig und Dresden zusammen mit der Bahn im Taxigeschäft, andere Verlage vertreiben Post… Allenthalben werden neue Geschäftsfelder ausgelotet, ok. Dass das jedoch alles unter Tendenzträgerschaft geschieht, wo Arbeitnehmerrechte, die ihren Ursprung im Sozialstaatsgebot haben, zurücktreten müssen hinter den Freiheitsrechten des Unternehmers, ist anachronistisch. Da schreit vieles nach Korrektur. Der DGB hatte schon vor der letzten BetrVG-Novellierung 2001 energisch gefordert, den Tendenzschutz stark einzuschränken. Es ist eine Frage des politischen Kräfteverhältnisses, ob der Gesetzgeber das anfasst. Auch hier könnte Hoffnung eher in Europa liegen, obwohl der Tendenzschutz ja eine deutsche Besonderheit ist.
Helmut Platow
… ist seit 1977 Rechtsanwalt. Seit Anfang der 1980er Jahre berät er vorrangig Betriebsräte und Gewerkschaften.
Von 1991 bis 2001 arbeitete er als Justiziar und
Leiter der Rechtsabteilung beim Hauptvorstand
der IG Medien.
Bis 2010 war er Leiter des Bereichs Recht und
Rechtspolitik der ver.di-Bundesverwaltung.
Zum Tarif- und Mitbestimmungsrecht hat er auch vielfach publiziert.