Buchtipp: Die türkische Agentur Anadolu und das Putsch-Narrativ

Buchcover: "Feto's Coup Attempt in Turkey – A Timeline", herausgegeben von der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu

Anfang August hat die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu aus der Türkei die Broschüre „Feto’s Coup Attempt in Turkey – A Timeline“ veröffentlicht. Auf knapp 90 Seiten werden darin die Ereignisse des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 nacherzählt, internationale Reaktionen vorgestellt und Hintergrundinformationen geliefert. Spannend an der Broschüre sind die Rahmung der Ereignisse und das Putschnarrativ, das hier aufgebaut wird. Die Broschüre wird international vertrieben oder auf internationalen Festivals wie „Visa pour l’Image“ auch kostenlos verteilt.

Schon am Titel der Broschüre wird deren Stoßrichtung deutlich. Während der Untertitel „A democracy triumphs in Turkey“ noch relativ neutral erscheint, enthält der Titel „Feto’s Coup Attempt in Turkey“ eine klare Positionierung. FETO, so wird auf Seite drei dann erklärt, ist die Fetullah Terrorist Organization. Ohne jeglichen Zweifel wird hier zum einen davon ausgegangen, dass FETO eine international operierende, terroristische Organisation ist. Zum anderen impliziert die Darstellung, dass der Putschversuch klar dieser Organisation zuzuordnen sei.

Herzstück der Publikation sind zwei längere Bilderstrecken. So werden auf der einen Seite in Form einer Timeline die Ereignisse der Putschnacht vom 15. auf den 16. Juli mit Nachrichtenfotografien der Anadolu-Fotografen sowie kurzen Texten nacherzählt. Auf der anderen Seite gibt es eine Bilderserie über die Türkei nach dem Putsch. Dazwischen eingestreut finden sich die Reaktionen internationaler Politiker, Statements festgenommener Generäle, Infografiken über die Struktur von FETO und zu den seither festgenommenen Verdächtigen, drei Doppelseiten mit den Namen der Märtyrer der Putschnacht und Statements von Präsident Erdogan zum Putsch.

Bezogen auf das verbreitete Narrativ über die Putschnacht sind mehrere Faktoren entscheidend: Im Vordergrund steht die konsequente Zuschreibung der Verantwortung für den Putsch an FETO. Allerdings werden an keiner Stelle handfeste Beweise über die Struktur und das Funktionieren der Organisation geliefert. Doch ist allein die Wortwahl bezeichnend: Es gehe um den „Triumph“ der türkischen Demokratie. Die in der Putschnacht Gefallenen werden als „Märtyrer“ bezeichnet. Eingewebt in diese Deutung sind auch die extrem selektiv ausgewählten Zitate der internationalen Politik. Kritische Töne aus der Türkei und dem Ausland, die vor allem im Nachgang des Putsches zu hören waren, werden vollständig ausgeblendet.

An vielen Stellen ist die in der Broschüre verbreitete Narration extrem vereinfacht und lässt jeden journalistischen Recherchestandard vermissen. So gibt es eine ganze Seite mit den Zahlen verhafteter und suspendierter Beamter in verschiedenen Ministerien, deren Entlassung als nationale Operation zur Eliminierung von FETO-Mitgliedern aus dem Staatsapparat („a nationwide operation aimed at eliminating FETO members from the state bureaucracy“) überschrieben und nirgendwo kritisch hinterfragt wird. Noch absurder kommt es, wenn die Aktivitäten der Gülen-Bewegung in Deutschland unter der Überschrift „FETO structuring in Germany“ zusammengefasst und in das Putschnarrativ eingewebt werden.

Die von Anadolu veröffentlichte Broschüre hat eine doppelte Funktion. Zum einen stützt sie die Putsch-Deutung der türkischen Regierung, füttert das Narrativ mit Bildern und Informationen und zielt darauf, es international zu verbreiten. Zum anderen ist die Veröffentlichung auch ein PR-Schachzug der Agentur, mit dem Bilder der eigenen Fotografen sowie die Aufbereitung von Informationen in Infografiken angepriesen werden. Damit geht Anadolu weit über die Funktion einer Nachrichtenagentur hinaus, Zulieferer an Informationen zu sein und Nachrichten für die Medien aufzubereiten.

Da Anadolu eine staatliche Nachrichtenagentur ist, ist diese Positionierung nicht verwunderlich. Aber es gibt doch zu denken, dass so klar und eindeutig Stellung genommen wird. Denn auch Anadolu lebt wie alle Nachrichtenagenturen vom Mythos der Unparteilichkeit und Objektivität. Und als Partner internationaler Agenturen wie AFP und Getty Images hat Anadolu auch eine nicht zu unterschätzende internationale Reichweite. So wird auf der Webseite von AFP Anadolu als Partneragentur mit den Worten vorgestellt, dass sie „eine hochwertige Berichterstattung über die türkische wie auch die internationale Welt der Politik, der Finanzen und des Sports“ liefere. Das muss wohl spätestens nach der Rezeption dieser Broschüre in Frage gestellt werden.

Feto’s Coup Attempt in Turkey, Anadolu Agency Publications #30, Istanbul – Turkey, Printed 5. August 2016, ISBN: 978-605-9075-23-7.

Online ist das PDF einer älteren Version der Broschüre zu finden unter: http://aa.com.tr/uploads/TempUserFiles/FETO_coup_ENG.pdf

 

 

 

 

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Sorge um Pressefreiheit in Osteuropa

„Journalistinnen und Journalisten stehen In vielen Ländern Osteuropas unter enormem Druck von Regierungen. Von Pressefreiheit kann angesichts von Repressalien wie Klagen, Bedrohungen und Inhaftierungen keine Rede mehr sein. Dabei machen die Journalist*innen einfach nur eins – ihre Arbeit“, betont Tina Groll, Bundesvorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di, anlässlich der Verleihung der Free Media Awards 2024 für Medienschaffende in Osteuropa heute norwegischen Nobel-Institut in Oslo.
mehr »

Immerhin gibt es Presse

Der Iran gehört zu den repressivsten Ländern weltweit für Journalist*innen. Hunderte wurden strafverfolgt, inhaftiert oder hingerichtet. Medien unterliegen systematischer staatlicher Kontrolle, das Internet wird umfassend zensiert und überwacht. Dennoch wird viel über den Iran berichtet und viele Iraner*innen nutzen soziale Medien. Es gibt einen öffentlichen politischen Diskurs. Ein Gespräch mit dem Historiker Arash Azizi.
mehr »

Bundesregierung ohne Exit-Strategie

Vor drei Jahren übernahmen die Taliban die Macht in Afghanistan. Während viele Menschen im Land heute angeben, die Situation sei sicherer, leben Journalisten fast nirgends gefährlicher. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (RSF) rutschte das Land mittlerweile auf Platz 178 von 180 Staaten. Ein Hoffnungsschimmer sollte das Bundesaufnahmeprogramm (BAP) für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen sein. Doch nur sechs Journalist*innen konnten darüber gerettet werden. Und das BAP stehe vor dem Aus, beklagt RSF. 
mehr »

Türfent: Rettender öffentlicher Druck

Der internationale Tag der Pressefreiheit ging in Deutschland in diesem Jahr mal wieder zwischen Feier- und Brückentagen unter. Dabei gerät die Pressefreiheit weltweit immer weiter unter Druck. So plante die Türkei ein „Agentengesetz“ nach Vorbild Russlands und Georgiens, mit dem kritische Journalist*innen kriminalisiert werden. Wie wichtig öffentlicher Druck für inhaftierte Journalist*innen ist, verdeutlichte der türkische Kollege Nedim Türfent. Er ist sich sicher: Ihm hat dieser Druck das Leben gerettet.
mehr »