Mexiko: Gewalt geht nicht in Quarantäne

Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Journalisten.
Foto: Article 19 Oficina para México y Centroamérica

Seit dem Jahr 2000 wurden in Mexiko 132 Journalist*innen aufgrund ihrer Arbeit ermordet. Die Gewalt hält auch unter der linken Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador an, die seit Dezember 2018 im Amt ist.

Tobias Lambert sprach mit Ana Cristina Ruelas von der Nichtregierungsorganisation Article 19 über die Hintergründe, die Straflosigkeit und die aktuelle Situation während der Coronakrise.

Mexiko gehört für Journalist*innen zu den gefährlichsten Ländern der Welt. Wie kommt es dazu?

Die Gewalt gegen Journalisten ist nicht einfach Ausdruck des allgemein hohen Gewaltniveaus in Mexiko. Sie erfolgt vielmehr bewusst, um eine Botschaft zu übermitteln. Dabei geht es häufig darum, dass sich Journalisten aus bestimmten Themen heraushalten sollen, etwa Korruption oder Drogenhandel. Hinter der Gewalt stehen vor allem das organisierte Verbrechen und die Politik. Etwa 80 Prozent der Aggressionen und Drohungen gegen Journalisten gehen von staatlichen Funktionären aus, meist auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene. Die Straflosigkeit ist fast total. Sie beträgt über 99 Prozent.

Seit 2012 gibt es einen staatlichen Schutzmechanismus für Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen. Warum funktioniert dieser nicht richtig?

Das größte Problem ist, dass es keine integrale Politik gibt, um die Presse zu schützen. Der Mechanismus soll Journalisten, die bedroht werden, persönlichen Schutz bieten. Aber es fehlt eine präventive Komponente, um die Gewalt zu reduzieren. Auch wird den Drohungen nicht nachgegangen. Das bedeutet, dass bedrohte Journalisten umgehend ermordet würden, falls sie den Schutzmechanismus verließen. Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte hat bereits im vergangenen August Empfehlungen vorgelegt, wie der Mechanismus zu stärken ist. Aber die Regierung hat bis heute nicht gesagt, wie sie dies umsetzen will. Sie misst dem Thema keine Priorität bei. Solange sie nichts gegen die Straflosigkeit tut, wird die Gewalt weiter anhalten.

Um die Straflosigkeit zu bekämpfen wurde 2017 die „Sonderstaatsanwaltschaft für Delikte gegen die Meinungsfreiheit“ geschaffen. Seitdem hat sie in 18 Fällen eine Verurteilung erreicht. Wie beurteilen Sie deren Arbeit?

Die Einrichtung der Sonderstaatsanwaltschaft könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein, ist aber völlig unzureichend. Nur in zwei Fällen wurden die Drahtzieher ermittelt, ansonsten bestenfalls die Auftragsmörder verurteilt. Dies aber löst das Problem nicht. Auftragsmörder gibt es viele, es kommt jedoch darauf an, wer sie bezahlt. Bisher mangelt es sowohl am politischen Willen als auch an entsprechender personeller und technischer Ausstattung, um jeweils die genauen Hintergründe aufzudecken.

Ana Cristina Ruelas leitet seit 2016 das Regionalbüro von Article 19 für Mexiko und Zentralamerika. Die britische Nichtregierungsorganisation arbeitet schwerpunktmäßig zu Meinungs- und Informationsfreiheit.
Foto: Article 19 Oficina para México y Centroamérica

Wie könnte die Straflosigkeit denn gestoppt werden?

Die Staatsanwaltschaft müsste damit aufhören, jeden Fall einzeln zu betrachten, und vielmehr die Strukturen aufdecken, die hinter der Gewalt stehen. In einzelnen Regionen ist ersichtlich, dass die Angriffe gegen Journalisten von bestimmten Politikern oder Gruppen des organisierten Verbrechens ausgehen. Aber es werden meist nur Einzeltäter verurteilt und häufig wird der Fall dann geschlossen.

Seit Dezember 2018 regiert mit Andrés Manuel López Obrador ein linker Präsident. Was hat sich für Journalist*innen seitdem geändert?

Es gibt positive und negative Entwicklungen. Einerseits hat die Regierung anerkannt, dass die meisten Aggressionen gegen Journalisten vom Staat ausgehen. Auch werden Journalisten anders als unter den Vorgängerregierungen nicht mehr offen kriminalisiert. Andererseits verwendet der Präsident in seinen allmorgendlichen Pressekonferenzen aber eine stigmatisierende Sprache und greift immer wieder einzelne Journalisten an. Anstatt auf eine unbequeme Frage zu antworten, attackiert er die Fragesteller, die sich daraufhin verteidigen müssen. Es wird also nicht über die Botschaft, sondern deren Überbringer diskutiert. Das verändert komplett den öffentlichen Diskurs.

Was bedeutet dies für Journalist*innen?

Mit seinem Diskurs treibt López Obrador einen Keil zwischen den Journalismus und den Rest der Gesellschaft. Das ist gefährlich, denn es führt bei Gewalt gegen Journalisten zu weniger Solidarität, wenn diese zuvor ständig beschimpft wurden, dass sie schlechte Arbeit machen würden. Und im schlimmsten Fall ermuntert dieser Diskurs Menschen, verbale oder physische Gewalt anzuwenden. Eine weitere Änderung gegenüber den Vorgängerregierungen ist der Umgang mit öffentlichen Werbeanzeigen.

Inwiefern?

Viele Medien sind traditionell auf Anzeigengelder des Staates angewiesen. Dadurch haben sich die Regierungen häufig eine wohlwollende Berichterstattung erkauft. Dass der neue Präsident dieses System kritisiert und anerkennt, dass der Staat darüber Zensur ausgeübt hat, ist erst einmal positiv. Aber seine Antwort war, das Budget für Anzeigen stark zu kürzen. Viele Reporter, die ohnehin schon unter sehr prekären Bedingungen leben, wurden deshalb entlassen. Die Medien wiederum kritisieren den Präsidenten nun härter und verfolgen damit auch das Ziel, dass die alte Verbindung wiederhergestellt wird, die darin bestand: Du bezahlst mich und ich lasse dich in Ruhe.

Welche Auswirkungen haben die derzeitigen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus auf den Journalismus?

Die Coronakrise zeigt sehr deutlich die strukturelle Schwäche der Regierung auf, Journalisten zu schützen. Die Gewalt geht nicht in Quarantäne. Erst im März wurde zum Beispiel die Journalistin María Elena Ferral aus dem besonders gefährlichen Bundesstaat Veracruz aufgrund ihrer Arbeit ermordet. Täglich registrieren wir Drohungen gegen Pressevertreter. Gleichzeitig zeigt aber auch der Journalismus, dass es ihm vielfach an ethischem Verhalten mangelt. Zum Beispiel rief ein Journalist im Fernsehen zur besten Sendezeit dazu auf, sich den staatlichen Schutzmaßnahmen gegen das Virus zu widersetzen. Und nicht zu vergessen: Viele Journalisten, die ohnehin prekär und ohne Festgehalt arbeiten, stellt die Krise ökonomisch vor große Probleme.


Mehr lesen zum Welttag der Pressefreiheit:

Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di zur Wertschätzung journalistischer Arbeit in Deutschland und weltweit: https://mmm.verdi.de/beruf/journalismus-kompass-in-stuermischen-zeiten-66009

„Die Corona-Pandemie bündelt bestehende repressive Tendenzen weltweit wie ein Brennglas. Die aktuelle Rangliste der Pressefreiheit zeigt, dass schon vor der aktuellen Krise erschreckend viele Regierungen und politische Kräfte in ganz unterschiedlichen Ländern bereit waren, die Pressefreiheit ihrem Machtstreben unterzuordnen“, sagte die Vorstandssprecherin von Reporter ohne Grenzen, Katja Gloger. https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/rangliste-2020/

Cover-Foto: Reporter ohne Grenzen

Trotz Corona-Pandemie ist der Band „Foto für die Pressefreiheit“ mit eindrucksvollen Reportagen und aufrüttelnden Bildern aus Kriegs-  und Krisengebieten erschienen.

https://www.reporter-ohne-grenzen.de/pressemitteilungen/meldung/bildband-erscheint-trotz-corona-pandemie/

Weitere aktuelle Beiträge zur Pressefreiheit auf M Online:

https://mmm.verdi.de/internationales/todesurteile-nach-grob-unfairem-verfahren-65993

https://mmm.verdi.de/medienpolitik/lotterie-gewinner-duerfen-fragen-stellen-65649

https://mmm.verdi.de/internationales/ungarn-medien-im-ausnahmezustand-65447

 

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