Er hat sie reichlich beliefert, nein, was sage ich, reich beschenkt, die Schau- und die Weltbühne vor allem, aber auch nicht weniger als 125 Zeitungen und Zeitschriften von A wie A.I.Z bis Z wie Züricher Student. Etwa 3.000 Texte sollen es insgesamt sein. Ob Leitartikel, Theater- und Buchkritik, Essay, Feuilleton, Reisebericht, Glosse, Aphorismus (Schnipsel genannt), Gedicht – kein Genre fehlt.
Und in jedem hat er Bilderbuchbeiträge geschrieben (die in der ersten Niederschrift nach seinen Worten noch „krumplig“ und „schwerfällig“ waren). Ich lese sie mit Kopfnicken, mit einem Ja auf der Zunge; ich „schmunzele“ mich durch die Texte, bekomme Gänsehaut. Er nannte Heinrich Heine einen Jahrhundertkerl. Doch war der Mann mit den fünf PS im 20. Jahrhundert nicht selber einer? Nicht als Humorist oder Bänkelsänger, wie ihn manche gerne sehen möchten, sondern als einer, bei dem die Satire alles durfte, weil er Satire konnte. Der Kurt Tucholsky, geboren 1890, gestorben 1935. Siebzig Jahre ist das nun her. Bekommen wir jetzt mehr Tucholsky, da die Arbeiten honorarfrei werden? Zugreifen! Von der auf 22 Bände angelegten Gesamtausgabe liegen 17 vor.
Als bedenklich betrachtete Kurt Tucholsky das Verhalten der damaligen Redakteure, deren Großteil die Manuskripte wie Schulaufsätze lese und zensiere. „Der Durchschnittsredakteur, der von seiner Gottähnlichkeit überzeugt sei, sollte seinen Stolz auf die Tarifverhandlungen verlegen und den Kollegen helfen, „nicht wie man armen Leuten hilft, sondern indem er seine, ihre, unsere Sache fördert“. Dem „Durchschnittsredakteur“ mangele es an Geduld. „Es soll immer alles gleich da sein und von Anfang an vollkommen. Er will alles sofort haben, telegrafisch am liebsten gestern und immer: den Schlager. So gehts nicht. Wertvolles muss wachsen (…)“. Es sei journalistische Pflicht, „zu experimentieren, tastend zu versuchen, von vorn anzufangen: Das hat S. J. immer getan.“ Das Kürzel steht für Siegfried Jakobsohn, Gründer der Schau- und der Weltbühne, der für ihn der Wunschredakteur war. Peter Panter, eines der bekannten fünf Pseudonyme, verwandelte sich in Gratulation extra in einen Panther und bedankte sich bei seinem „Bändiger“ für den schönen Käfig, weil er sich darin so wohl fühle. Jeder, der meint, Tucholsky habe nichts und niemanden gelten lassen, wird hier (auch in Beiträgen über Alfred Polgar, Maximilian Harden, Roda Roda, Franz Hammer, Larissa Reissner) eines anderen belehrt.
Als gäbe es eine Oberzeitung
Kurt Tucholsky war kein Zeitungswissenschaftler, aber mit der Institution Presse befasste er sich durchaus – auf seine Weise. So zum Beispiel in der Geschichte „Von dem Manne, der keine Zeitungen mehr las“. Andreas Grillruhm, Verkäufer für Türklinken und Held des Geschehens, stellte erstaunt fest, dass die von ihm abonnierten Blätter („Das tägliche Morgengebet“ – „Der Händehoch“ – „Allgemein Hinkender Politischer Bote für die Umgebung“ – „Die Türklinke“) auf eine mysteriöse Weise bis auf das jeweilige Modewort übereinstimmten. Als gäbe es eine Oberzeitung, von der alle anderen abschrieben.
1919 entdeckte Kurt Tucholsky eine kleine Schrift unter dem Titel „Sozialisierung der Presse“. Flugs nahm er sich des Themas, das heute als innere Pressefreiheit diskutiert wird, an und fand heraus, das Annoncengeschäft müsse „doch irgendwie einen starken Einfluss auf die politische und kulturelle Haltung der Blätter haben“. Möglichen Einwänden entgegentretend, fügte er hinzu, es geschehe nicht so simpel, dass der Chef in die Redaktionsräume trete und proklamiere: „Von morgen an wird nichts mehr gegen den Alkohol geschrieben; von übermorgen an werden die Kinos gelobt.“ Der Einfluss sei stiller und gefährlicher. Der schlimmste Zensor sitze im eigenen Hause. Da zensiere „der Inserent“. Der damals 29-Jährige bezeichnete seinen Artikel freimütig als Ketzerei und verlangte eine Reform. Hintergründig schloss er: „In 200 Jahren ist dies alles, was ich hier geschrieben habe, vergessen und verweht. Oder verwirklicht.“ Wenn er wüsste, wie heute über die Trennung von Journalismus und Werbung diskutiert wird?
In „Presse und Realität“ (1921) stellte er fest, die Wiedergabe von Ereignissen werde nicht der Wahrheit möglichst angenähert, sondern so gestaltet, dass man sie für die Wahrheit ansieht, dabei aber die Interessen von Aufraggebern, Industrie und Parteien gewahrt bleiben. „Der Nachrichtendienst ist das komplizierteste Lügengewebe, das je erfunden worden ist.“ Die Wirklichkeit, wie sie von der Zeitung serviert werde, habe ein Sieb passiert. Übrig bleibe: „Die Welt – gekürzte Volksausgabe und für den Schulunterricht bearbeitet.“ Die Aufmachung tue ein Übriges und verleite den Leser, die Erde unbewusst in „Groß- und Kleingedrucktes“ einzuteilen. Als wichtiges Thema schlug Tucholsky in einem Gedicht der Boulevardpresse vor: „Prämierung des kleinsten Damennabels.“
Handwerk als Voraussetzung
Wenn journalistisch-literarische Texte ihre Zeit überdauern, dann nicht nur wegen ihrer Aktualität, sondern auch wegen ihrer sprachlichen Brillanz. Kurt Tucholsky hat Sprachdenkmäler gesetzt. Er liebte das Handwerkliche, das für ihn kein Ziel war, jedoch eine Voraussetzung. Was er dem von ihm verehrten Weltbühnen-Kollegen Alfred Polgar in der Buchbesprechung „Schwarz auf weiß“ lobend bescheinigte, traf auf ihn mindestens in gleicher Weise zu. Er arbeitete an einer Seite Prosa wie „an einer Bildsäule“, schrieb ein „gepflegtes, durch alle Regeln der Grammatik schlüpfendes Deutsch“. Bei Kurt Tucholsky drängeln sich die Worte nicht „vor der Hirnpforte des Lesers. Sie gleiten hinein, verbeugen sich artig voreinander …“ Er wollte und konnte „der deutschen Sprache nie etwas Böses tun“. Er hat ihr nur „viele prächtige Kinder gemacht.“ – Warum gehen Journalisten auf die Sprachmüllhalde? Warum lesen sie nicht Tucholsky?