Unter Dauerfeuer

Istanbul 1. Mai 2016: Journalisten laufen auseinander, nachdem aus einem vorbeifahrenden Polizei-Auto eine Tränen­­gas-Granate in die Gruppe geworfen wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren keine Demonstranten auf dieser Straße!
Foto: Willi Effenberger

Um die Pressefreiheit ist es nicht gut bestellt – weltweit. Medienschaffende werden bei ihrer Arbeit behindert, öffentlich diskreditiert und angegriffen, verfolgt, eingesperrt, getötet. Zu wenig wird von den Regierenden für ihren Schutz und für freie gute Arbeitsbedingungen getan. Rechtsstaatlichkeit erodiert oder hat es schwer, zu wachsen!

An diesen Tagen des Terrors und Krieges in vielen Ländern, angesichts 65 getöteter Medienschaffender im vergangenen Jahr und der mehr als 320 Inhaftierten weltweit, ist es nicht leicht, noch neue Worte zu finden, um diesen mit der Beschädigung der freien Medien einhergehenden Demokratiezerfall zu beschreiben. Gleichwohl es an Worten nicht mangelt, die Bedeutung der Pressefreiheit hoch zu halten. Sie sei „ein hohes Gut“, ein „Grundfeiler der Demokratie“, wie die Meinungsfreiheit „ein Grundrecht“, „ein Menschenrecht“. Und deshalb müsse sie „immer wieder verteidigt werden“. Wahre Worte, häufig bemüht, vor allem von Politiker_innen – genau genommen kann man sie nicht oft genug wiederholen. Entwertet werden sie, weil ihnen zu wenige Taten folgen, weltweit, in Europa, in Deutschland.

Unerträglich und unfassbar die Lage in der Türkei. Hier sind derzeit die meisten Medienschaffenden weltweit in Haft. Terrorpropaganda-Vorwürfe müssen her­halten, um kritische Berichterstatter_innen ruhig zu stellen. Oft sind sie monatelang ohne Anklage hinter Gittern, unter menschenunwürdigen Bedingungen. Zu ­ihnen gehörte auch der Welt-Korrespondent Deniz ­Yücel, eine Geisel Erdogans im Politschacher mit der Bundesrepublik. Mit Freude und Erleichterung reagierte auch ver.di, als unser Kollege am 16. Februar nach einem Jahr aus der Haft entlassen wurde und noch am gleichen Tag nach Deutschland fliegen konnte. Kurz zuvor hatte es die türkische Staatsanwaltschaft – nach 12 Monaten – geschafft eine Anklageschrift vorzulegen, die gerade mal drei Seiten umfasst. Bis zu 18 Jahre Gefängnis fordert sie für Yücel, wirft ihm nach wie vor „Terrorpropaganda“ und „Volkverhetzung“ aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit vor. Das Gericht nahm die Anklage an! Dennoch kam er frei. Entschieden von einer unabhängigen Justiz? Wohl kaum!

Seit Monaten hatte es in Deutschland und darüber ­hinaus immer wieder Proteste gegen die Inhaftierung des inzwischen prominenten Journalisten gegeben, ­eine große Front der Solidarität hatte sich gebildet. Unter dem Hashtag „#FreeDeniz“ engagierten sich zahlreiche Unterstützer_­innen für den Korrespondenten. Yücel wurde zum Symbol für alle Inhaftierten in der Türkei. Der Fall des Journalisten mit einem deutschen und einem türkischen Pass hatte die Beziehungen zwischen beiden Ländern zunehmend belastet. Deshalb setzte sich auch die deutsche Politik für Yücel ein, namentlich Altkanzler Gerhard Schröder, Außenminister Siegmar Gabriel und Kanzlerin Angela Merkel. Die Freilassung Yücels ist ein Erfolg, jedoch kann sie nur ein sehr kleiner Schritt in Richtung verbesserte Beziehungen zur Türkei sein. Denn von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist das Land am Bosporus noch weit entfernt. Das Jahr ungerechtfertigter Haft ist für Deniz nicht ungeschehen zu machen. Zudem bleiben eine ungeheure Anklage und der drohende Prozess.

Am gleichen Tag als Yücel freikam, wurden von einem türkischen Gericht sechs Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt, darunter die drei Journalisten Ahmet Altan, Mehmet Altan und Nazlı Ilıcak. Sie waren bereits seit anderthalb Jahren im Gefängnis. Der Schuldspruch ist das erste Urteil gegen Journalisten, denen eine Beteiligung am Putschversuch im Juli 2016 vorgeworfen wird. „Ein verheerendes Signal“ für alle folgenden Prozesse, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (ROG). Auch die Journalistin Mesale Tolu, die einen deutschen Pass hat, wurde – nach vielen Monaten – aus dem Gefängnis entlassen. Sie darf jedoch die Türkei nicht verlassen. Ihr Prozess wird im April fortgesetzt. Fünf weitere Deutsche sitzen aus (vermutlich) politischen Gründen in Haft. Vor allem für sie – und für alle (politischen) Inhaftierten – wolle sich die deutsche Politik nunmehr weiter einsetzen, wurde am Tag nach Yücels Freilassung mehrfach bekundet. „Das erwarten wir auch von den politisch Verantwortlichen“, erklärte der stellvertretende ver.di-Vorsitzende Frank Werneke am 16. Februar. Denn „bei aller Freude“ über die Freilassung Yücels, „dürften die anderen Journalistinnen und Journalisten nicht in Vergessenheit geraten, die weiterhin gegen jede rechtstaatliche Logik in einem Land festgehalten werden, das demokratische Grundrechte wie die Pressefreiheit mit Füßen tritt. Für dieses Grundrecht und für die zu Unrecht Inhaftierten müssen und werden wir uns auch weiter stark machen“, versicherte Werneke.

Zu den jüngsten Entgleisungen der türkischen Behörden gehört das Vorgehen gegen den Fotografen Uygar Önder Simsek im Februar. Simsek wurde kurz nach seiner Rückkehr nach Istanbul von einem dreimonatigen Aufenthalt in Berlin festgenommen, wo er am Auszeit-Stipendienprogramm von ROG und der taz Panter Stiftung teilgenommen hatte. Ihm wurde vorgeworfen, mit seinen Fotos in sozialen Medien Terrorpropaganda verbreitet zu haben. Ein Gericht in der Stadt Bursa lehnte die von der Staatsanwaltschaft geforderte Untersuchungshaft ab. Simsek wurde zwar freigelassen, darf die Türkei jedoch auch nicht verlassen. „Uygar Önder Simsek hat unter großen Risiken die Zustände in Kriegs- und Krisenregionen dokumentiert. Dass die türkische Justiz ihm aufgrund seiner ­Arbeit als professioneller Fotograf Terrorpropaganda unterstellt, ist schlicht absurd“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Simsek verdient als Fotograf in Kriegs- und Krisengebieten seinen Lebensunterhalt und ist daher darauf angewiesen, ins Ausland zu reisen.“ Mihr fordert: „Die Justiz muss das Ausreiseverbot sofort aufheben und die Anschuldigungen gegen ihn fallenlassen.“

Entführt oder weggesperrt

Während ROG zufolge knapp die Hälfte aller weltweit Inhaftierten Medienschaffenden in der Türkei in Haft sitzt, verteilen sich die anderen 50 Prozent auf vier weitere Länder: China, Syrien, Iran und Vietnam. Erschreckend ist auch die Situation in Äthiopien. Hier wurde am 14. Februar der Journalist Eskinder Nega nach sieben Jahren Haft begnadigt. Er war 2011 verhaftet und wegen Beihilfe zum Terrorismus zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Seine Tat: In einem Bericht hatte der Journalist die Frage gestellt, ob eine Entwicklung wie der von demokratischen Hoffnungen begleitete „Arabische Frühling“ auch in Äthiopien möglich sei. Zudem wurde ihm vorgeworfen, sich an Aktivitäten der verbotenen Partei „Ginbot 7“ beteiligt zu haben, berichtete M 2011 in der Serie „Aktion für …“, die seit Jahren gemeinsam mit Amnesty Inter­national geschrieben wird. Amnesty International zufolge sitzen in dem Land im Nordosten Afrikas Hunderte Menschen hinter Gittern, nur weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen haben. Derzeit läuft eine umfassende Amnestie in Äthiopien. Jedoch werden auch weiterhin Regierungskritiker verurteilt.

In vielen Gebieten der Erde sind Entführungen eine weitere große Gefahr für Reporter_innen. Ende 2017 sind weltweit 54 Medienschaffende entführt worden, berichtet ROG. „Mit Ausnahme von zwei Journalisten, die in den separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine festgehalten werden, konzentrieren sich diese Fälle vollständig auf Syrien, den Jemen und den Irak. Allein in Syrien befinden sich derzeit mindestens 22 einheimische und sieben ausländische ­Medienschaffende in der Gewalt verschiedener bewaffneter Gruppen, einige davon seit mehr als fünf Jahren.

Demonstration vor der türkischen Botschaft in Berlin, organisiert von Reporter ohne Grenzen am 3. Mai 2017 Tag der Pressefreiheit>br/>Foto: Christian von Polentz

Von den 2017 weltweit mindestens 65 Journalist_innen, Bürgerjournalist_innen und anderen Medienmitarbeiter_innen, die in direktem Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet worden sind, starb fast die Hälfte außerhalb von Regionen mit bewaffneten Konflikten, bilanzierte ROG. Sie wurden in Ländern wie Mexiko oder den Philippinen, aber auch in Malta ermordet, weil sie über Tabu-Themen wie politische Korruption oder das organisierte Verbrechen berichteten. So wurde am 16. Oktober 2017 die investigative Bloggerin und Journalistin Daphne Caruana Galizia auf Malta mit einer Autobombe getötet. Zwei Wochen vor ihrer Ermordung hatte sie wegen Todesdrohungen Anzeige erstattet. Trotzdem wurde sie nicht geschützt. Caruana Galizia hatte für die Times of Malta und den Malta Independent geschrieben. Jedoch vor allem in ihrem Blog Running Commentary berichtete sie über Korruption und mafiöse Strukturen im Land einschließlich der Verwicklungen hoher Regierungs- und Staats­beamter in solche Machenschaften. So hatte sie enthüllt, dass zwei enge Mitarbeiter von Maltas Premierminister Joseph Muscat Offshore-Konten in Panama und Trusts in Neuseeland eröffnet hatten. Im Februar 2018 hat der Prozess gegen drei Männer begonnen, denen der Mord zur Last gelegt wird. Wer sie beauftragt hat, ist unklar. Am Abend des 25. Februar waren der slowakische Investigativjournalist Ján Kuciak und seine Lebensgefährtin in ihrem Haus erschossen aufgefunden worden. Der 27-Jährige hatte über Geldwäsche und über Verbindungen der Mafia zur slowakischen Regierung recherchiert. Es gab Hinweise, dass Kuciak bedroht wurde. Aber die Behörden hatten nicht reagiert. Kuciak war Redakteur des slowakischen Newsportals aktuality.sk, welches zum Verlag Ringier Axel Springer Slovakia gehört, einer gemeinsamen Tochter von Axel Springer und Ringier.

Druck von Politik und Behörden nimmt zu

Mit einem politischen Rechtsruck in vielen Ländern wächst der Druck von Politik und Behörden auf Medien und Journalismus auch jenseits körperlicher Gewalt. Im Fokus steht vielerorts der öffentliche Rundfunk. Direkte Angriffe auf seine Existenz und Budgetkürzungen gehören zur Strategie, eigenen Interessen zum Durchbruch zu verhelfen. So wurde am ersten Märzwochenende in der Schweiz über die „No Billag-Intiative“ abgestimmt. Ihr Ziel: die Abschaffung der sogenannten Zwangsgebühren. Initiiert wurde die Volksbefragung von rechten Jungpolitikern, die dafür 100.000 Unterschriften sammelten. Der Vorstoß zur Abschaffung des öffentlichen Rundfunks in der Schweiz ging erschreckend knapp aus. Ohne diese Gelder hätten die 6.000 Arbeitsplätze nicht weiter finanziert werden können. Ob es nicht dennoch zu einschneidenden Kürzungen kommt, wird sich nun 2019 zeigen. Dann werden die Rundfunkgebühren gesenkt. Denn bereits bei der letzten medienpolitischen Abstimmung vor zwei Jahren gab nur eine hauchdünne Mehrheit den Ausschlag für die Einführung einer allgemeinen Medienabgabe anstelle der heutigen Empfangsgebühr. Derzeit zahlt ein Haushalt mit Radio- und TV-Gerät 451 Franken im Jahr (387 Euro), mit der beschlossenen Abgabe reduziert sich dieser Betrag auf 365 Franken (313 Euro), berichtete M Online.

In Deutschland steht der öffentlich-rechtliche Rundfunk nun schon seit geraumer Zeit unter Dauerbeschuss. Führend dabei die AfD, die sich für eine grundlegende „Systemumstellung“ stark macht. Folgt man den Vorstellungen im Bundestagswahl-Programm, sollten ARD und ZDF aufgelöst und ein „bürgernaher“ Rundfunk gebaut werden, der sich nur noch auf Information, Kultur und Bildung konzentriert. Bezahlt soll er nur von denjenigen werden, die sich dafür interessieren – ein Bezahlsender könnte man meinen! Ob und wie sich den dann jeder leisten könnte, bleibt offen.

Beschimpft und persönlich angegriffen

In Österreich sorgte jüngst ein Facebook-Posting von FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache für Aufsehen. Zu sehen ist Fernsehmoderator Arnim Wolf, der ein Bild von Pinocchio in den Händen hält. „Es gibt einen Ort, an dem Lügen zu Nachrichten werden. Das ist der ORF“, heißt es darauf. Darüber die Überschrift: „Satire“. Wolf will nun gegen den rechtspopulistischen Politiker juristisch vorgehen, berichtet der österreichische Standard. „Ich finde, die Attacken der FPÖ – einer Regierungspartei – auf unabhängige Medien und ihre persönlichen Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten erreichen mittlerweile ein demokratiepolitisch wirklich bedenkliches Ausmaß“, wird der Fernsehmoderator zitiert, der auch von einer Klage seitens des ORF ausgehe.

„You are Fake News“ beschimpfte US-Präsident Donald Trump den leitenden CNN-Korrespondenten des Weißen Hauses, Jim Acosta, in einer Pressekonferenz im vergangenen August, anstatt dessen Frage zu beantworten. Seiner Meinung nach hatte CNN falsche Nachrichten über ihn verbreitet. Der Video-Bericht ging um die Welt, ist jederzeit im Netz abrufbar. Im Januar dann verschärfte Trump seine öffentliche Journalistenschelte und belegte damit einmal mehr sein zerrüttetes Verhältnis zu den Medien des Landes. Er vergab den Schmähpreis „Fake News Award“ für aus seiner Sicht besonders unredliche und falsche Berichterstattung. Wie die Listung zustande kam, bleibt sein Geheimnis. Überraschend dabei, dass sein offenbar meistgehasster Widersacher CNN erst auf Platz drei landete, dafür aber gleich für vier Berichte „ausgezeichnet“ wurde. Platz eins konnte Paul Krugmann, Nobelpreisträger und Kolumnist der New York Times verbuchen. Begründung: Er habe nach der Präsidentenwahl behauptet, die US-Wirtschaft werde sich nie „erholen“, dabei boome sie. Platz zwei ging an einen Reporter des Senders ABC, Platz vier erhielten Berichterstatter des Time Magazine, ein Beitrag der Washington Post kam auf Rang fünf.

Stuttgart, 1. Mai 2015: Ein Fotograf der „beobachter­news“ – mit gültigem Presseausweis – wird abgedrängt.
Foto: beobachternews

Kriterien für die Bewertung des Zustands der Pressefreiheit eines Landes sind auch die bestehende ­Medienvielfalt, die Unabhängigkeit von politischen Mandatsträgern und Wirtschaftsunternehmen, die Transparenz von Politik und Behörden, einschließlich der Geheimdienste oder der Datenschutz – für Medien vor allem – des Quellenschutzes. Im Konglomerat gesetzlicher Regelungen, die eine freie Meinungs- und Pressefreiheit tangieren und damit erst ermöglichen, hat auch Deutschland noch einige Baustellen.

Nehmen wir das in den Landespressegesetzen verankerte Auskunftsrecht. Immer wieder müssen Journalisten erst vor Gericht ziehen – oft bis in die höchste Instanz, um für ihre Recherche benötigte Auskünfte zu erhalten. So erkannte am 16. März letzten Jahres der Bundesgerichtshof (BGH) den presserechtlichen Auskunftsanspruch auch gegenüber Aktiengesellschaften an, die im Bereich der Daseinsvorsorge tätig sind. Der BGH hatte mit seinem Urteil (Az. I ZR 13/16) einem Journalisten Recht gegeben, der von einem als Aktiengesellschaft organisierten Wasser- und Energieversorger Auskünfte zur möglichen Finanzierung SPD-naher Internetblogs verlangt hatte. Die dju in ver.di begrüßte das klare Votum für den Informationsanspruch von Journalist_innen. „Auskunftsrechte sind elementarer Bestandteil von Pressefreiheit. Gerade dem Staat, Verwaltung, Behörden und Justiz müssen Journalistinnen und Journalisten genau auf die Finger schauen können, um ihrer Rolle als vierter Gewalt in der Demokratie gerecht zu werden.“ Diese Rolle würde gern negiert, wenn Transparenz einmal nicht recht erwünscht sei, erklärte dju-Bundesgeschäftsführerin Cornelia Haß. Um den Stellenwert von Auskunftsrechten generell zu stärken, müssten „Ansprüche gegenüber Bundesbehörden daher unbedingt in einem Bundespressegesetz geregelt werden. Das ist überfällig“, so Haß.

Von Daten und Informanten abhängig

Obwohl der Europäische Gerichtshof (EuGH) die anlasslose Vorratsdatenspeicherung Ende 2016 als EU-rechtswidrig erklärt und damit gekippt hat, gilt sie nach wie vor in Deutschland. Sie hebele den Quellenschutz aus und schränke dadurch erheblich die Presse- und Rundfunkfreiheit ein, sagte dazu Cornelia Haß. Der Informantenschutz und das Redaktionsgeheimnis seien aber wesentliche Voraussetzungen für unabhängige, journalistische Arbeit. Union und große Teile der SPD hatten 2015 das umstrittene Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen. Es verpflichtet Telekommunikationsgesellschaften, die Verbindungsdaten ihrer Kunden aufzuzeichnen: Telefonnummern, IP-Adressen und Standortdaten. Im Juni 2017 wurde die gesetzliche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen bereits für europarechtswidrig befunden und ausgesetzt. Ende 2017 folgte die eindeutige Entscheidung des EuGH. Ausnahmen der Personen-Überwachung seien lediglich zur Bekämpfung schwerer Straftaten möglich, wurde darin klargestellt. Dennoch trat das Gesetz zur massenhaften Telefon- und Internetüberwachung in Deutschland am 1. Juli 2017 in Kraft.

Dass in Deutschland ein gesetzlich verankerter Whistleblower-Schutz fehlt, passt leider in diesen Rahmen. Auch der neue Koalitionsvertrag lässt den politischen Willen dazu vermissen (S. 24/25). Als „Kollateralschaden für die Pressefreiheit“ sieht ein Interessenbündnis, dem netzpolitik.org, Reporter ohne Grenzen (ROG), die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) sowie mehrere Journalisten, Blogger, Juristen und IT-Experten angehören, den seit einem Jahr geltenden Straftat­bestand der Datenhehlerei (§ 202d StGB). Deshalb wurde im Dezember 2016 eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht (1 BvR 2821/16) eingereicht. Ein wichtiger Teil der Arbeit investigativer Journalisten, aber auch von Bloggern sowie ihrer Informanten oder von Fachexperten werde damit kriminalisiert, erklärte das Interessenbündnis. In der jetzigen Formulierung greife der Paragraph ohne Not in Grundrechte wie die Pressefreiheit, sowie in allgemeine Persönlichkeitsrechte ein, erklärte Katharina de la Durantaye, Rechtsprofessorin an der Berliner Humboldt-Universität, die die Verfassungsbeschwerde ausgearbeitet hat. Da der § 202d sämtliche Daten schütze, riskierten Journalisten, die mit geleaktem Material umgehen, sich selbst strafbar zu machen. Noch stärker beträfe das aber Dritte, die etwa um fachliche Expertise gebeten werden.

Polizeieinsatz beim G20-Gipfel in Hamburg am 7. Juli 2017
Foto: Freddy Denzinger

Fehlerhafte Datenerfassung oder gar Missbrauch von Daten lag offenbar auch vor, als auf dem G20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg neun Journalisten urplötzlich die Akkreditierungen entzogen worden waren. Nachdem weder das Bundeskriminalamt (BKA) noch das Bundespresseamt (BPA) plausible Gründe für dieses Vorgehen nennen konnten, klagen die betroffenen Medienschaffenden nun vor dem Verwaltungsgericht Berlin. Acht von ihnen werden dabei von der dju in ver.di unterstützt. Inzwischen wurde bekannt, dass das BPA aufgrund fragwürdiger, offenbar rechtswidrig erfasster Daten des BKA handelte. Die dju fordert Aufklärung und veränderte rechtsstaatliche Verfahren bei der Vergabe der Akkreditierungen. Prozesstermine sind noch nicht bekannt.

Leider ist die staatliche Überwachung von Journalist_­innen auch in Deutschland kein Novum. Erinnert sei an den Skandal im Jahr 2013, als bekannt wurde, dass fünf Journalist_innen angeblich irrtümlich vom Verfassungsschutz in Niedersachsen (mit)observiert wurden. Unter ihnen befanden sich die bekannte und preisgekrönte Journalistin Andrea Röpke, der freie Hörfunkjournalist Kai Budler und der Sportjournalist Ronny Blaschke. Am 18. Februar dieses Jahres machte das Freie Sender Kombinat (FSK) erneut darauf aufmerksam, dass ihr Redakteur Werner Pomrehn von 2000 bis ins Jahr 2015 durch das Landesamt für Verfassungsschutz überwacht wurde. Bis heute gibt es keine Hinweise, dass die Überwachung zwischenzeitlich eingestellt wurde.


www.hausderpressefreiheit.de

Auf dieser Website gibt es ausgewählte Artikel zum Thema: die Bedrohung der Pressefreiheit in Deutschland und in anderen Ländern.

Interessantes findet sich auch unter der Rubrik „Deutsche Geschichte im Spiegel der Presse“.

Derzeit aktuell auch ein Special über den Fotografen und das dju-Mitglied Günter Zint


Unter Druck – Journalisten im Visier

Das Beispiel Türkei

Ausstellung vom 15. März bis 18. Mai 2018

Eröffnung am 15. März, 18 Uhr mit Öczan Mutlu

19. April, um 18 Uhr Lesung des VS Berlin-Brandenburg: „Ausnahmezustand“ – Aziz Tunc liest aus seinem Buch „Töte du mich“

Tag der Pressefreiheit am 3. Mai, 18 Uhr Podiumsdiskussion

MedienGalerie Berlin, Dudenstraße 10, 10965 Berlin

www.mediengalerie.org

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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