Ein neues Medium – mit Vor- und Nachteilen – und ganz neuen Möglichkeiten
In Internet-Auktionshäusern kann man allerhand Kurioses ersteigern: Wehrmachtsbriefe, menschliche Knochen, lebende Frösche. Als aber im Herbst letzten Jahres unter der Auktionsnummer 464469305 ein kompletter Radiosender angeboten wurde, war das selbst für Internet-Verhältnisse etwas Besonderes: Die 500.001 Aktien der Firma „Cyberradio“ sollten ein Mindestgebot von 6,415 Millionen Mark einbringen.
Das Verkaufsangebot war nicht etwa ein Werbegag, sondern durchaus ernst gemeint – die Verzweiflungstat eines Senders, der erst eineinhalb Jahre zuvor mit großen Hoffnungen gestartet worden war. Wortreich hatte Vorstand Olaf Kriewald in zahlreichen Interviews die goldene Zukunft dieser „neuen Form des Hörfunks“ beschworen, von einer „fetten Werbekampagne“ und einem „baldigen Börsengang“ geträumt. Doch dann ging den Radio-Pionieren das Geld aus. Auch die Gebotsliste bei Ebay blieb leer. Kurze Zeit später stellte die Betreiber-Firma Insolvenz-Antrag.
Nachteile von beiden Medien?
Die spektakuläre Pleite des „Cyberradios“ bestätigte in den Augen der Kritiker, was ohnehin längst klar war: Internet-Radio ist überflüssig, ein Hype, eine Totgeburt. Denn tatsächlich vereint das Netz-Radio auf den ersten Blick nicht etwa die Vorteile, sondern die Nachteile von Radio und Internet: Wer es einschalten will, muss erst den Rechner hochfahren, sich ins Internet einwählen, einen Browser starten, die Homepage des Senders aufrufen, dann das Abspielprogramm (z.B. den „Real-Player“) starten. Bis der erste Ton aus der Box kommt, sind da gut und gerne drei Minuten vergangen. Ist man dann online, frisst der Musikkanal auch noch enorme Übertragungskapazitäten. Surfen, Downloads und Chatten dauert länger. Außerdem kostet es Online-Gebühren – sofern man nicht eine Pauschalgebühr („Flatrate“) hat. Und man kann es nicht einmal mit ins Auto, in den Garten oder auf die Toilette nehmen. Warum dann nicht gleich das Radio, dass man an jeder Ecke für zwanzig Mark kaufen kann, und das meist längst irgendwo in Rechnerweite steht, einschalten?
Individuell und interaktiv
„Weil es den Hörer individuell anspricht und interaktiv ist“, sagt Stephan Schwenk, Chef des Berliner Internet-Senders „Das Webradio“. An der Technik zumindest muss es nicht mehr scheitern: Sie ermöglicht inzwischen qualitativ hochwertigen Hörgenuss. Dabei wird nicht über Funkmasten gesendet, sondern in Form von Datenströmen, den „Streams“. Die laufen über Modem oder ISDN-Anschluss im Rechner ein und werden dort in Töne verwandelt.
Der größte Vorteil der Internetsender ist gegenwärtig ihre Vielfalt: Mehr als 8000 Stationen sind weltweit über Internet zu empfangen. Vom Schreibtisch in Wanne-Eickel aus kann man sich in das Programm des College-Radios von Chicago einwählen. Oder den chinesischen Staatsrundfunk hören. Oder schwedischen Schwulenfunk. Oder Radio Vatikan. Außerdem die meisten öffentlich-rechtlichen Sender, die sich fast flächendeckend mit eigenen Streaming-Angeboten im Netz präsentieren.
Auch reine Internet-Sender
Dazu kommt eine Hand voll reiner Internet-Sender. Darunter befinden sich große Namen. So hat „Yahoo“ kürzlich ein eigenes Radioprogramm gestartet, das ausschließlich im Internet zu empfangen ist. Auch Konkurrent Web.de ist mit einem eigenen Musikangebot online. Der britische Allround-Unternehmer Richard Branson ging im letzten Jahr mit „Radio Free Virgin“ ins Netz.
Doch längst nicht alles, was sich „Radio“ nennt, verdient auch diesen Namen. Auf vielen Sites werden gerade einmal ein paar Minuten oder eine einzelne Sendung ins Netz gestellt, die man jederzeit abrufen kann: Offener Kanal rund um die Uhr.
Vollprogramme gibt es nur ein Hand voll, und wenn, dann meist mit dem üblichen Gedudel der Kommerzfunker: Top Fourty rauf und runter, dazwischen Jingles und blöde Sprüche, News und Wetter nur, wenn man Glück hat und Wortbeiträge muss man mit der Lupe suchen. Nicht zuletzt deshalb hat das Netz für Radio-Journalis-ten noch keine Anziehungskraft. Während Print-Schreiber sich immer öfter zum Internet hingezogen fühlen, hat bislang nur eine Hand voll Abenteurer vom Radio aufs World Wide Web umgesattelt.
Selbst Wolf-Tilmann Schneider, Geschäftsführer des Streaming-Anbieters youwant.com, glaubt nicht, „dass sich im Internet ein eigener Radio-Journalismus entwickeln wird“. Die Surfer erhielten ihre Infos schon jetzt „visuell durch Bil-der und Text auf entsprechenden Sites.“ Er setzt deshalb ausschließlich auf ein differenziertes Musikprogramm.
Spürbare Konkurrenz
Gleichwohl bekommen die etablierten Radio-Macher die Konkurrenz durch das neue Medium zu spüren. So mussten die Sportreporter der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die samstägliche Halbzeit-Konferenzschaltung aus den Stadien der Fußball-Bundesliga aufgeben, weil das Web-Angebot www.bundesliga.de die Exklusivrechte gekauft hat. Dort werden jetzt sämtliche Begegnungen der 1. und 2. Bundesliga in voller Länge live kommentiert – ein Service, mit dem traditionelle Rundfunkanstalten allein aus Mangel an Frequenzen nicht konkurrieren können.
Doch ob sich der immense Aufwand lohnt, ist noch nicht abzusehen. Einnahmen erzielen die Sender bislang hauptsächlich über Werbung – sowohl akustisch in Form von Radio-Spots, als auch optisch in Form von Bannern auf den Web-Seiten der Sender. Eine „Webradio-Allianz“, bestehend aus allen großen Anbietern hat sich zusammengeschlossen, um die Internet-Programme gemeinsam zu vermarkten.
Individuelle Ansprache – schön für die Werbung
Individualisierung ist das Pfund, mit dem die Web-Radios wuchern wollen: So fragt Chartradio jeden Neukunden unter anderem nach Geburtsjahr, Bildungsstand und Einkommen – Daten, die gezielte Werbung möglich machen. Hat der Sender darüber hinaus – etwa durch Gewinnspiele – noch exaktere Informationen über die Hörer erfahren, ließe sich theoretisch Radiowerbung nahezu ohne Streuverluste anbieten: der Traum eines jeden Marketingchefs.
Dazu kommt die Möglichkeit des Online-Shoppings. Schon jetzt kann man bei den meisten Sendern das gerade ausgestrahlte Lied per CD ins Haus ordern – Mausklick genügt. Die Provision des Online-Deals geht an den Sender. Zumindest in der Theorie.
Denn ob das Internet-Radio seine Goldene Zeit noch vor oder bereits hinter sich hat, wird sich wohl in den kommenden ein, zwei Jahren entscheiden. Möglich, dass die Verbreitung von Pauschaltarifen zu einer Nutzerexplosion führt, wie die Betreiber hoffen. Wahrscheinlicher ist aber, dass Streaming-Elemente als Teil von multimedialen Websites fortbestehen werden, nicht aber als digitales Vollprogramm – so wie beim Reiseveranstalter TUI, der unter dem Slogan „Einschalten und abheben“ das TUI.de-Radio anbietet.