Das große Schweigen im Südwesten

Die Stuttgarter Blätter sind seit Jahren im Sparmodus, aktuell trifft es 55 weitere Arbeitsplätze. Karikatur: Oliver Stenzel (2019)

Fünf Landräte schreiben einen Brandbrief zum Stuttgarter Stellenabbau

Stell dir vor, fünf Landräte schreiben gemeinsam einen Brandbrief, und fast niemand kann ihn lesen. Weil eben fast alle Zeitungen, die ihn veröffentlichen könnten, zu jedem Konzern gehören, den dieser Brandbrief betrifft. Der Fall aus dem Südwesten ist ein Musterbeispiel dafür, wie die immer stärkere Monopolisierung der Medien den demokratischen Diskurs zerstört.

Bei der Südwestdeutschen Medien Holding (SWMH)soll gespart werden. Das ist fast so wenig eine Nachricht wie „Hund beißt Postbote“, kehrt sie doch seit Jahren immer wieder. Bleibt nur die bange Frage: Wie viele Arbeitsplätze trifft es diesmal? Bis zu 55 Stellen sollen es bis Jahresende bei der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“ sein, die zur SWMH gehören. Die lokale Berichterstattung wird heruntergefahren, die klassischen Ressorts werden abgeschafft und durch Themen-Teams ersetzt. Statt „Wirtschaft“ und „Politik“ heißt es nun „Freizeit und Unterhaltung“ und „Liebe und Partnerschaft“. Schließlich verdient seit dem Kauf von Parship.de auch Axel Springer an der Liebe – und mindestens alle elf Minuten verliert ein Bürger den Glauben an die großen Medien als „vierte Säule“ der Demokratie.

Als Sparziel stehen sechs Millionen Euro im Raum, doch der journalistischen Qualität soll dieses Vorgehen nicht schaden. Doppelstrukturen sollen beseitigt, die Wachstumsmöglichkeiten im Internet genutzt werden. Den eigenen Lesern teilte man in der ebenfalls betroffenen „Esslinger Zeitung“ die Veränderungen in einem blumigen Einspalter mit, in dem viel von Zukunft und Strategie die Rede war und die vielen Stellenkürzungen nur mal eben kurz erwähnt wurden.

Bereits 2015/16 wurden die Redaktionen der „Stuttgarter Zeitung“ und der „Stuttgarter Nachrichten“ in einer eigenständigen Tochterfirma zusammengelegt, die von da an beide Blätter herausgab – mit 35 Vollzeitstellen weniger. Der jetzige erneute Stellenabbau macht laut Einschätzung von ver.di über zwanzig Prozent aus – mehr als jede fünfte Stelle fällt weg. Deshalb soll es im ganzen Stuttgarter Stadtgebiet künftig den gleichen Inhalt geben.

Für starken Lokaljournalismus

Was denken die Landräte Roland Bernhard aus Böblingen (parteilos), Heinz Eininger aus Esslingen (CDU), Edgar Wolff aus Göppingen (Freie Wähler), Dietmar Allgaier aus Ludwigsburg (CDU) und Richard Sigel aus dem Rems-Murr-Kreis (parteilos) darüber, wenn die Pressebank bei Gremiensitzungen immer schwächer besetzt ist? Freuen sie sich, wenn keiner mehr aufpasst? Wenn sie künftig per eigener Pressemitteilung quasi die Deutungshoheit haben? Ganz im Gegenteil, das zeigt ihr gemeinsamer öffentlicher Brandbrief vom 28. Januar 2022 an die Geschäftsführer Christian Wegner (SWMH) und Herbert Dachs (Medienholding Süd). „Kommunalpolitik braucht einen starken Lokaljournalismus“, schreiben die fünf Landräte, die mehr als zwei Millionen Menschen vertreten, in sehr moderatem Ton. Nur so begreife die Bevölkerung, was vor Ort geschehe. „Pressemitteilungen und Behörden-Webseiten können die Recherche unabhängiger Reporter nicht ersetzen.“

Die fünf Landräte wollen keine Hofberichterstattung. Ihr Anliegen an die Lokalpresse sei, „Verwaltungen kritisch zu hinterfragen und darüber objektiv und ausführlich zu berichten“. Sie stehen damit ganz in der Tradition des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Er hatte die Presse einst ausdrücklich aufgefordert, das Regierungshandeln zu kritisieren. Die Regierung brauche das, um besser zu werden.

Ob so ein Brief etwas bewirken kann? Landräte können kaum mit dem Entzug eines großen Werbebudgets drohen, wie es ein großer Industriekonzern könnte. Aber zumindest sollte über einen derartigen Brief diskutiert werden. Die Landratsämter haben ihn deshalb breit gestreut – und waren dann bitter enttäuscht.

Ja, die „Kontext“-Wochenzeitung hat groß berichtet. Damit hat sie mal wieder ihre klassische Rolle erfüllt: Über das zu berichten, was andere verschweigen. Entstanden ist „Kontext“ vor gut zehn Jahren durch Stuttgart 21, als die Stuttgarter Blätter sich als große Fürsprecher des für den Bahnbetrieb desaströsen Rückbaus und Milliardengrabs verstanden und kritische Stimmen nirgendwo durchdrangen. Professionell gemacht wird sie von Journalist*innen, die diesen Häusern den Rücken gekehrt haben. Seither gibt es mittwochs online und samstags als Beilage der „taz“ manches zu lesen, was anderswo kaum zu finden ist.

So wie der Brandbrief der fünf Landräte. Eine Lanze sei noch für den SWR gebrochen, er griff den Brandbrief sofort am Veröffentlichungstag in einem einminütigen Hörfunkbeitrag auf. Schon am 19. Januar hatte es in „SWR aktuell“ einen zweiminütigen Fernsehbeitrag zum Stellenabbau gegeben. Der gescholtene öffentlich-rechtliche Rundfunk funktioniert also noch immer.

Keine Vielfalt mehr

Doch sonst? Fehlanzeige, großes Schweigen. Nichts im Rems-Murr-Kreis. Auch nichts in der „Ludwigsburger Kreiszeitung“, der letzten unabhängigen gallischen Bastion im Großraum Stuttgart. Bis Ende 2016 wäre die „Esslinger Zeitung“ ein möglicher Kandidat zur Veröffentlichung gewesen, doch im Herbst 2016 wurde ihr Verkauf an die SWMH verkündet. Demokratisch besonders interessierte Doppelabonnenten aus der Neckarstadt fragten sich danach recht schnell, warum sie zweimal für praktisch dasselbe bezahlen sollen. Die Kreiszeitung „Böblinger Bote“ folgte wenig später ebenfalls in die SWMH. Bleibt Göppingen mit der „Neuen Württembergischen Zeitung“ (NWZ), sie ist über die Südwestpresse in Ulm ebenso mit dem SWMH-Konzern verbunden. Wer die Konzernstruktur umfassend studieren möchte, findet in Kontext 313 eine Grafik des Medienforschungsinstituts Formatt. Aber Vorsicht: Der Stand ist Januar 2017, die dort noch genannten Auflagenzahlen sind längst Geschichte.

„Kontext“ und der SWR – war das wirklich alles an Berichten? Jedem kann etwas entgehen, doch auch Andrea Wangner, Pressesprecherin des Landratsamts Esslingen, teilt am 10. Februar auf Anfrage mit: „Tatsächlich ist mir keine weitere Veröffentlichung bekannt.“ Was fast niemand kennt, darüber kann die Gesellschaft leider auch nicht streiten. Und so ein Streit wäre ja zumindest ein erster Schritt. Inzwischen haben Wegner und Dachs auch Post von der Fraktion der Grünen im Verband Region Stuttgart bekommen. „Wir beobachten schon seit geraumer Zeit, dass die Berichterstattung über die Region Stuttgart nicht mehr zu den bevorzugten Aufgaben Ihrer Häuser gehört. Dies zeigt sich in der eher lückenhaften Besetzung der Presseplätze in den Ausschusssitzungen oder dem Plenum und der anschließenden Berichterstattung. Das bedauern wir sehr“, schreiben sie und bitten, die Kürzungspläne „zu überdenken“.

Soll man den Niedergang der beiden Stuttgarter Blätter bedauern? Einerseits ja, denn guter Journalismus wird dringend gebraucht. Auf der anderen Seite weisen manche Stimmen in Online-Diskussionen inzwischen in eine andere Richtung: Eine Zeitung, die das Interesse an Politik verloren habe, brauche kein Mensch, ist dort zu lesen. Journalismus werde es immer geben, er werde sich nur neue Wege suchen.

Er hat es längst getan. Als bekennender Doppelleser hat der Autor den täglichen Vergleich: zuerst die gedruckte Zeitung zum Frühstück, anschließend viel im Netz, auch aus dem Ausland, auch hochwertige „alternative“ Quellen verschiedener politischer Prägung. Manche solide Information aus dem Netz gähnt dann Wochen später auf dem Papier, wenn es inzwischen auch der letzte Mensch gemerkt hat und es sich kaum noch leugnen lässt. Vielleicht dauert es künftig ja noch etwas länger. Außer es hat mit „Liebe und Partnerschaft“ zu tun.

 

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