Das Zusammenwachsen des Fernsehens mit digitalen Angeboten spiegelt sich vor allem in der zunehmenden Nutzung von Streaming-Plattformen und Sender-Mediatheken. Auch in Deutschland verändert der Markteintritt großer Video-on-Demand-Anbieter wie Netflix den Medienalltag – zugleich eine Chance, junge Zielgruppen mit neuartigen Informationsformaten zu erreichen.
Die „Holzmedien” sind im digitalen Zeitalter eine aussterbende Gattung – Prognosen vom baldigen Ende der gedruckten Zeitung müssen angesichts rasant sinkender Auflagenzahlen wohl ernst genommen werden. Auch dem linearen Fernsehen wird neuerdings immer häufiger das Aus geweissagt – mit Verweis auf den rasant wachsenden Video-on-Demand-Markt. Bis 2021, so prophezeit der Medienökonom Klaus Goldhammer von Goldmedia Anfang Mai beim Medientreffpunkt Mitteldeutschland in Leipzig, werde dieser Markt jährlich um durchschnittlich 27 Prozent wachsen. Als entscheidende Vorteile geben VoD-Liebhaber die Möglichkeit des zeitversetzten Sehens an. Ebenso sehr schätze diese Klientel die Abwesenheit von nervtötender Werbung. Der größte Teil der gestiegenen Nachfrage werde sich auf bezahlte Abos bei den „großen Gorillas” der Branche konzentrieren: auf Google, Amazon, Apple, Maxdome, Sky und auf Netflix. Und er zitierte Netflix-Gründer Reed Hastings, der innerhalb der kommenden fünf bis zehn Jahre analog zur Entwicklung in den USA auch in Deutschland ein Drittel aller Fernsehhaushalte – das entspräche 13 Millionen – erobern will: „In zwanzig Jahren werden die Kids fragen: Was soll das bedeuten, dass eine Sendung um acht anfängt?”
Ein äußerst ehrgeiziges Ziel, betrachtet man den Status quo. Derzeit nutzen nur 17 Prozent der deutschen TV-Haushalte Online-TV. Immerhin an die fünf Millionen VoD-Abonnenten gibt es hierzulande, mit einer klaren Schlagseite bei jüngeren Konsumenten. Daraus bereits jetzt eine fehlende Perspektive für den herkömmlichen TV-Genuss zu diagnostizieren, erscheint aber arg verfrüht. Die unlängst publizierten Ergebnisse der Untersuchung „Tendenzen im Zuschauerverhalten” zeigen für 2015: Der Hype um Netflix, Amazon Prime und Co. und ihre fantastischen Serien ist – gemessen am TV-Konsum von Otto Normalverbraucher – reichlich überzogen. Demnach erreicht Amazon als hiesiger VoD-Marktführer gerade mal vier Prozent der Bevölkerung, gefolgt von Netflix und Maxdome mit jeweils zwei Prozent. Marginale Werte, die allerdings für die Zukunft viel Luft nach oben lassen.
Einstweilen gilt: Die Fernsehnutzung in Deutschland wird nach wie vor eindeutig vom klassischen linearen Fernsehen dominiert. Die durchschnittliche tägliche Sehdauer der Gesamtbevölkerung stieg 2015 sogar leicht auf 223 Minuten an. Allerdings verliert der
lineare TV-Konsum beim jüngeren Publikum an Attraktivität. Nach den Zahlen der Arbeitsgemeinschaft für Fernsehforschung AFG/GfK sank im Zeitraum 2009–2013 die entsprechende TV-Nettoreichweite bei den 14–49jährigen um 3,5 Prozent auf 61,6 Prozent. Ein nicht sonderlich dramatisch klingender Wert. Die nicht-lineare Nutzung über VoD oder Streaming-Portale entwickelte sich aber nicht so stark wie das immer breitere Angebot.
Laut Digitalisierungsbericht 2015 erhöht sich die Zahl der Menschen, die regelmäßig professionelle Videoangebote auf Abruf nutzen, zwar kontinuierlich. Bezahlte Abos spielen indes noch eine untergeordnete Rolle. Die meisten dieser Nutzer_innen wählen kostenlose Videoportale wie YouTube, Vimeo oder den Microsoft Online-Dienst MSN Movies, dicht gefolgt von den Mediatheken der Fernsehsender. Dabei liegen die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten vor denen der privaten TV-Konkurrenz. Genaue Daten dazu werden erst im Laufe dieses Jahres erstmals vorliegen, wenn diese Angebote in die AGF/GfK-Forschung integriert werden. Im Vordergrund steht dabei das zeitversetzte Anschauen von Lieblingsserien und -programmen. Aber auch hier ist das Verhältnis von linear zu digital in der Regel eindeutig: Der erfolgreichste Münsteraner „Tatort” erreichte im vergangenen Jahr bei seiner Erstausstrahlung (plus Wiederholung) stattliche 15 Millionen Zuschauer. Dazu kamen 552.000 On-Demand-Abrufe in der Mediathek. Beachtenswert waren erste Versuche, erfolgreiche Serien wie „Weissensee” oder „The Team” schon vor der TV-Ausstrahlung in die Mediatheken zu stellen. Auch Serien wie der Eifel-Krimi „Mord mit Aussicht” oder Nachmittagssoaps wie „Rote Rosen” und „Sturm der Liebe” erzielen regelmäßig hohe Abrufraten. Dabei ist der Konsum von illegal bei YouTube eingestellten Versionen noch gar nicht mitgerechnet.
Unzählige Special-Interest-Angebote
Klar ist: Die Mediennutzung dürfte sich in den nächsten Jahren weiter ausdifferenzieren. Der einstige rein brancheninterne Wettbewerb zwischen frei empfangbaren TV-Sendern verwandelt sich mehr und mehr in einen kaum noch überschaubaren Bewegtbildmarkt mit einer Vielzahl neuer Player und Angebotstypen. Die Fragmentierung des klassischen Fernsehens nimmt zu: 2015 fiel der Marktanteil der „großen Sechs” – das Erste, ZDF, ARD-Dritte, RTL, Sat.1 und ProSieben – beim Gesamtpublikum erstmals unter die Marke von 60 Prozent. Verschärfte Konkurrenz erwächst aus einer Vielzahl von Special-Interest-Angeboten; selbst die Popularität des lange Zeit stagnierenden Pay-TV nimmt neuerdings zu. Zusätzlich angeheizt wird der Wettbewerb durch große internationale Player wie YouTube, Facebook, Apple, Amazon und Netflix. Auf diese Entwicklung reagieren die etablierten TV-Sender, indem sie versuchen, auf dem neu entstandenen Marktsegment des non-linearen Fernsehens selbst mitzumischen. Zunächst in Form von Mediatheken, eigenen Videoportalen und Streamingdiensten von den Privatsendern.
In diesem Zusammenhang wird auch klar, wie überfällig vor zwei Jahren die Transformation der früheren Rundfunkgebühr in den Rundfunkbeitrag war. „Es kommt eben nicht mehr darauf an, ob jemand ein TV-Gerät oder ein Radio hat, unsere Inhalte müssen auf allen Verbreitungswegen zum Nutzer kommen”, sagt Manfred Krupp, Intendant des Hessischen Rundfunks (HR), zugleich Vorsitzender der ARD-Verwertungskommission (s. Interview S. 9/10). Die Expansion des Online-Marktes lasse allerdings derzeit den noch vor wenigen Jahren dominanten physischen Markt in Form von DVDs und Blu-rays schrumpfen. Wenn man den „Tatort” überall auf YouTube finden könne, sei selbst ein solches Premium-Produkt nur noch schwer zu vermarkten. YouTube sei längst der am häufigsten genutzte Kanal für die On-Demand-Produkte der ARD. 70 Prozent des Bewegtbildangebots zum Beispiel des HR werde inzwischen über YouTube abgerufen, konstatiert Krupp, ein großer Teil davon zu seinem Kummer illegal. Dieser grassierenden Videopiraterie versucht die ARD neuerdings durch ID-Kennungen und Sperrungsauflagen beizukommen.
Das Bestreben der öffentlich-rechtlichen Anstalten, auf allen Kanälen präsent zu sein, erschöpft sich nicht im Bereich Unterhaltung. Zur Erfüllung ihres Informationsauftrags haben diverse Sender in jüngster Zeit digitale Projekte gestartet, mit denen spezielle netzaffine User_innen erreicht werden sollen. So erweitert zum Beispiel der Rundfunk Berlin-Brandenburg seit Ende April sein bestehendes regionales Online-Informationsangebot um die App rbb24. NDR Info initiierte Anfang April mit „WhatsInfo” ein neues wöchentliches Videoformat, in dem herausragende News pointiert fürs Smartphone aufbereitet werden: in Form
eines Chat-Dialogs, garniert mit Fotos oder Videoschnipseln. Und ein Jahr nach dem Start von „heute+” feierte im Mai das ZDF die nach eigener Einschätzung gelungene crossmediale Vernetzung seines jungen Nachrichtenformats. Unnötig zu erwähnen, dass alle erwähnten Angebote auf Facebook und Twitter präsent sind.
Private bauen Digitalgeschäft aus
Auch die privaten TV-Konzerne bauen ihr digitales Angebot aus, teils im eigenen Haus, teils durch Zukäufe. So vermarktet ProSiebenSat.1 über seine vor drei Jahren gegründete Firma Studio 71 international bekannte YouTube-Stars wie Gronkh und Le Floid. Zuletzt übernahm man die Mehrheit am Multichannel-Netzwerk Collective Digital Studio (CDS). Beide sind spezialisiert auf die Produktion von Inhalten für eine eher jugendliche Zielgruppe. Selbst die RTL-Group, lange vergleichsweise zögerlich im Aufbau des Digitalgeschäfts, machte in den vergangenen Jahren mit mehreren großen Zukäufen von sich reden, darunter Firmen wie MCN Broadband TV, Divimove und
Stylehaul. Erst vor einem Jahre bündelte die Gruppe ihre Digitalaktivitäten im RTL Digital Hub, um ihre Position bei Online-Video weiter auszubauen. RTL 2 startete mit RTL II You eine neue Plattform, die Jugendliche mit einem gestreamten Programm ansprechen soll.
Eine verwirrende Vielfalt, die allerdings teilweise aus der Not geboren wurde. Aus Sicht der Sender wäre
eigentlich der Zusammenschluss zu größeren Verbünden auf nationaler Ebene nötig, um dem aggressiven Marktansturm der internationalen Konkurrenz Paroli zu bieten. Doch die gemeinsam von RTL und ProSieben.Sat.1 im Jahr 2011 geplante Plattform „Amazonas” scheiterte an den Bedenken des Bundeskartellamtes. Begründung: Die Plattform hätte die beherrschende Stellung von RTL und ProSiebenSat.1 auf dem deutschen Fernsehwerbemarkt verstärken können.
Ebenso erging es der ARD bei ihrem Versuch, gemeinsam mit dem ZDF und einem Dutzend anderer Kooperationspartner unter dem Namen „Germany’s Gold” eine eigene Plattform für VoD auf die Beine zu stellen. Auch dieses Projekt wurde 2013 von den Kartellwächtern untersagt, weil diese die geplante gemeinsame Vermarktung und damit verbundene Preisabsprachen der beiden Anstalten als problematisch einstuften. Die öffentlich-rechtlichen Sender behelfen sich seither damit, ihre Angebote über einige private VoD-Anbieter und Livestream-Dienste zu verbreiten. So werden Programme von ARD und ZDF beispielsweise auf der Onlineplattform Zattoo angeboten. Ähnlich wie beim linearen TV können hier Filme und Live-Übertragungen in Echtzeit gestreamt werden.
Wie schon angedeutet, findet eine Verdrängung des klassischen Fernsehens einstweilen noch nicht statt. Es ist aber unübersehbar, dass die neuen Player ein wesentlich jüngeres Publikum anziehen als die etablierten Sender-Schiffe. Laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2015 sind 53 bzw. 58 Prozent der Nutzer_innen von Videoportalen und Streamingdiensten zwischen 14 und 29 Jahre alt. Der Anteil der ab 50jährigen beläuft sich demgegenüber nur auf 15 bzw. 10 Prozent. Die TV-Anbieter machen sich diese Erkenntnisse zunutze, indem sie jüngere Zielgruppen über ihre Mediatheken oder über eine verstärkte Präsenz auf Videoportalen anzusprechen versuchen. „Die ARD hat mehr als 100 eigene Channels auf YouTube”, schätzt Manfred Krupp. Interessanterweise hat diese vielseitige Verfügbarkeit der Inhalte bislang nicht zu einer senderintern zunächst befürchteten „Kannibalisierung” geführt. Es ist nicht erkennbar, dass sich die Nutzer in relevantem Umfang vom klassischen Fernsehen abwenden. Ebenso wenig leidet offenbar die Beliebtheit des einzelnen Produkts darunter. Das belegen laut „Media Perspektiven” zumindest Fallstudien von Nielsen aus den USA, bei denen die Veröffentlichung einer TV-Sendung auf Netflix oder Amazon Instant Video dem „Quotenverlauf” dieses Programms im linearen Fernsehen gegenübergestellt wurde. Hierzulande gibt es dazu noch keine validen Daten. Netflix hat bislang seine Abonnentenzahlen in Deutschland noch nicht veröffentlicht. Auch über konkrete Abrufzahlen für einzelne Inhalte schweigt sich der US-Senkrechtstarter einstweilen aus.
Binge Watching auch hierzulande
Eine signifikante Veränderung des Sehverhaltens haben Netflix und Co. immerhin auch beim deutschen Publikum schon bewirkt. Allmählich hält das auf dem US-Markt längst bekannte Phänomen des „Binge
Watching” auch hierzulande Einzug. Gemeint ist die Chance, ganze Staffeln der persönlichen Lieblingsserie am Stück zu sehen, ohne auf die nächste Folge warten zu müssen. Die fünfte Staffel von „House of Cards” dürfte von den Fans der Serie schon mit einiger Spannung erwartet werden. Möglicherweise mit mehr Ungeduld als die US-Präsidentschaftswahlen. <<