Lange Zeit ein Nischen-Medium, werden Hörbücher immer beliebter, vor allem bei den Unter-40jährigen. Ob bei der Hausarbeit, im Auto oder beim Sport, auf dem Smartphone oder auf CD, das Buch fürs Ohr ist heute Massenmedium und erreicht Millionen von Menschen. Wichtigster Wachstumstreiber: der Digitalmarkt. Immer neue Plattformplayer drängen in das boomende Geschäftsfeld. Auch die Öffentlich-Rechtlichen mischen mit. Für die Verlage ein zweischneidiges Schwert. Besonders die Kleineren müssen zusehen, nicht auf der Strecke zu bleiben.
Berlin-Kreuzberg, Ende April: Hier sitzt, in einem 1875 mit charakteristischer Klinkerfassade errichteten und heute für Berlin typischen Gewerbehof, die Argon Verlag GmbH. Es ist „Tag des Buches“ und zahlreiche Verlage, darunter mehrere Hörbuchverlage, haben unter dem Motto #verlagebesuchen ihre Türen geöffnet, um sich interessierten Leserinnen und Lesern bzw. Hörerinnen und Hörern vorzustellen. Durch Hof 2, Aufgang B des Berliner Altbaus weht Start-Up-Flair. 18 Personen arbeiten hier, darunter Kilian Kissling, Geschäftsführer Vertrieb und Marketing. Etwa 170 Hörbuchneuerscheinungen zähle man im Jahr, sagt er, wovon die Mehrzahl zwar immer noch im Buchhandel vertrieben werde, doch würden die digitalen Distributionskanäle immer wichtiger. So beliefere Argon mittlerweile alle wichtigen Streaming-Portale wie etwa Audible, iTunes, Deezer oder Spotify. In Berlin arbeite man mit fünf verschiedenen Tonstudios zusammen, eines davon sitzt im gleichen Aufgang ein paar Stockwerke höher. Auch Hamburger Verlage ließen ihre Bücher in Berlin aufnehmen, erzählt Kissling, weil es hier die beste technische und personelle Infrastruktur gebe. Deswegen verfügt die Stadt auch über die größte Dichte an Hörbuchverlagen. Insgesamt listet das Adressbuch für den deutschsprachigen Buchhandel (AdB) 438 Hörbuchlabels, wovon nicht alle nur Hörbücher, manche auch Musik im Programm führen. Der zur Georg von Holtzbrinck Gruppe gehörende Argon Verlag, bereits 1952 gegründet und seit 2005 ein reiner Audio-Verlag, ist inzwischen der drittgrößte Hörbuchverlag in Deutschland.
Vom Buch-Ersatz zum eigenständigen Medium
In den letzten 20 Jahren ist der Markt für Hörbücher exponentiell gewachsen, doch entstanden war das Medium schon viel früher. Das erste Audiobook wurde in den 1950er Jahren aufgenommen. Um genau zu sein im Jahr 1954, als die Deutsche Grammophon Gustaf Gründgens Faust-Inszenierung vertonte. Doch Lesungen und Hörspiele auf Schallplatte und ab den 60ern auf Kassette waren lange Zeit vornehmlich an Blinde und Sehbehinderte adressiert. Selbst der Begriff ‚Hörbuch‘ an sich bezeichnete seit seiner erstmaligen Verwendung zunächst nur einen Worttonträger, der speziell für Blinde konzipiert war.
Hörbücher, Hörspiele, Lesungen?
Der Oberbegriff Hörbuch bezeichnet ganz allgemein einen Worttonträger. In Abgrenzung zum Hörspiel dagegen handelt es sich bei einem Hörbuch um ein von einem einzelnen Sprecher vorgelesenes Werk, während an einem Hörspiel eine Vielzahl an unterschiedlichen Sprecher_innen beteiligt ist und Geräusche zusammen mit Musik eine authentische Szenerie erschaffen, quasi wie ein Film ohne Bild. Gelegentlich wird als dritte Spielart noch die Lesung genannt, bei der nicht ein Sprecher oder eine Sprecherin, sondern die Autor_innen selbst ihr Werk vortragen.
Digitalvertrieb wächst, doch nicht alle profitieren
Im Jahr 2017 hörten rund 13 Millionen Deutsche mindestens einmal im Monat ein Hörbuch oder Hörspiel, 2016 waren es noch 11 Millionen. Neun Millionen hören sogar wöchentlich. Das sind die Zahlen des „Hörkompass 2017“, den das Audio-Streaming-Portal Audible im vergangenen Jahr auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt hat. Durchgeführt wurde die Studie vom Meinungsforschungsinstitut Kantar EMNID, das dafür mehr als 2000 in Deutschland lebende Menschen ab 14 Jahren telefonisch befragt hat. Demnach nutzen 58 Prozent der Befragten Hörbücher zum Entspannen zu Hause, 54 Prozent hören Audiobooks in öffentlichen Verkehrsmitteln und 52 Prozent im Auto. Die beiden wichtigsten Motive für Hörbücher sind unverändert Unterhaltung (66 Prozent) und Weiterbildung (62 Prozent). Interessant: Es sind die jungen Hörer, die das Wachstum auf dem Hörbuchmarkt antreiben. Während durch alle Altersgruppen 22 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten mindestens ein Hörbuch oder Hörspiel gehört haben, sind es bei den Unter-40jährigen 31 Prozent. Deutlich gestiegen ist zudem die digitale Nutzung von Hörbüchern: 41 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie Hörbücher über Smartphone oder Tablet hören. Damit liegt die mobile Nutzung erstmals gleichauf mit der CD-Nutzung (42 Prozent). Und: 2016 hörten nur 35 Prozent über Smartphone oder Tablet. „Die Kultur des Geschichtenerzählens erfährt eine Wiedergeburt im digitalen Zeitalter, weil die mobile Nutzung von Hörbüchern auf dem Smartphone zunimmt. So wird das Warten in der Supermarktschlange oder das Pendeln zur Arbeitsstelle zu einer weiteren Möglichkeit, mehr großartige Geschichten zu erleben“, erklärte Nils Rauterberg, Geschäftsführer von Audible.
Tatsächlich schwächeln die Umsätze mit physischen Tonträgern im stationären Buchhandel. Mit Hörbuch-CDs sind sie 2017 um 9 Prozent zurückgegangen. Aktuelle Zahlen des Branchenmonitors Buch zeigen, dass die Umsätze im Juni 2018 verglichen mit dem Vorjahresmonat um 8 Prozent niedriger ausfielen. Auch der Marktanteil von Hörbüchern an den physischen Umsätzen im deutschen Buchmarkt ist laut Media Control zwischen 2014 und 2017 von 3,8 auf 3,1 Prozent gesunken. Trotzdem spricht und schreibt man überall vom Hörbuch-Boom. Denn während die Umsatzverluste über klassische Vertriebskanäle für die meisten Verlage im ein- bis zweistelligen Bereich liegen, werden die digitalen Distributionswege immer wichtiger. Auch wenn es keine verlässlichen Zahlen dazu gibt, zeigen die Befragungen der Verlage durch buchreport, das Fachmagazin der deutschsprachigen Buchbranche, doch einen eindeutigen Wachstumstrend im Digitalbereich.
Auch beim Argon-Verlag wächst das digitale Geschäft, hat laut Kissling jedoch noch nicht die Größe des physischen Geschäfts erreicht. Der Vertrieb- und Marketinggeschäftsführer setzt auf die positiven Wechselwirkungen zwischen physischem und digitalem Hörbuch und darauf, dass sich die Zielgruppen für die unterschiedlichen Formate noch besser ausdifferenzieren. Bereits 2017, so Kissling gegenüber buchreport, sei der Unterschied „was verkauft sich gut im Buchhandel und was verkauft sich gut digital“ noch größer geworden.
Doch nicht alle Verlage profitieren vom digitalen Wachstum. Die Studie „Umsatz der Verlage über digitale Vertriebswege. Ergebnisse einer Online-Umfrage September 2017“ der IG Digital im Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat gezeigt, dass große Verlage im Schnitt 12,5 Prozent ihrer Umsätze mit digitalen Produkten, kleine Verlage 10,8 Prozent erwirtschaften. Jedoch: Nur zwei Drittel der Verlage sind überhaupt auf digitalen Plattformen wie Audible, Deezer und Co. präsent. Und von denen erwirtschaften 40 Prozent digital so gut wie keine Umsatzanteile und ein weiteres Drittel generiert im Netz unter fünf Prozent des Gesamtumsatzes. Und das bei gleichzeitig kontinuierlich sinkenden Umsätzen aus dem physischen Geschäft.
Die größten Hörbuchverlage
• Der Hörverlag / Random House Audio / cbj audio (Verlagsgr. Random House)
• Hörbuch Hamburg / Silberfisch / Osterwold Audio (Bonnier)
• Argon / Argon Sauerländer Audio (Holtzbrinck)
• Bastei Lübbe Audio
• Sony Music Entertainment
• Universal Music
• Verlagsgruppe Oetinger
• Der Audio Verlag
• Kiddinx Media
• Jumbo
• Herbig
• Edel Germany
• Audio Media Verlag
• Roof Music
Quelle: buchreport.de
Amazon-Tochter dominiert den Markt
In Deutschland wird der Audio-Streaming-Markt zu 90 Prozent von Amazons Tochter Audible monopolisiert. Der Hörbuchgigant führt mittlerweile 200.000 Titel im Programm. Was seine Abonnentenzahlen betrifft, zeigt sich das Unternehmen schweigsam. Immerhin gibt man preis, dass im Jahr 2017 mehr als 140 Millionen digitale Hörstunden bei Audible heruntergeladen wurden. Man kann die Hörbücher entweder direkt kaufen oder für 9,95 Euro einen Abo-Vertrag abschließen, mit dem man sich einmal im Monat ein beliebiges Hörbuch aussuchen kann, ob Volker Kutschers Gereon Rath-Romane oder die Selbsthypnose-Anleitungen von Jan Becker. Ähnlich wie Netflix für die TV-Branche produziert Audible seit einiger Zeit auch „Originals“, sprich vom Unternehmen selbst geschriebene und ungekürzte Hörspiele. Seit Ende 2017 ist man außerdem auf den Podcast-Zug aufgesprungen. Der kostenlose Zugang zu den 22 Audible-Podcast-Originals, unter anderem mit Jörg Thadeusz oder Ronja von Rönne, ist im Monatsabo von 9,95 Euro enthalten.
Doch auch andere Player haben das Wachstums- und Umsatzpotenzial erkannt und drängen auf den Hörbuchmarkt, darunter Musik-Streaming-Portale wie Spotify und Deezer. Im November 2017 hat Apple Music Hörbücher in sein Sortiment aufgenommen und Google bietet sie seit Jahresbeginn in seinem Play Store an. Mit Google Play Books können Nutzer_innen bisher einige tausend Hörbücher erwerben, sie allerdings weder herunterladen noch auf einem Google-Home-Lautsprecher abspielen. Ebenfalls neu gestartet auf dem deutschen Markt ist BookBeat, der E-Book- und Hörbuch-Abonnementservice des schwedischen Medienkonzerns Bonnier. Das digitale Start-Up könnte zu einem Konkurrenten für Audible werden, denn im Gegensatz zur Amazon-Tochter bietet es eine echte Flatrate: Für 14,90 Euro im Monat können Abonnent_innen so viele Hörbücher streamen oder in die App herunterladen wie sie wollen. Einziges Manko: Bisher umfasst BookBeats Bücherregal nach eigenen Angaben nur knapp mehr als 10.000 Hörbücher und Hörspiele.
Die Rolle dieser Audio-Streaming-Plattformen bewerten Verlage und Digitaldienstleister sehr unterschiedlich. Kilian Kissling glaubt, dass die digitale Expansion des Hörbuchs auch die physischen Verkäufe anregen, der Markt für Hörbücher auf CDs demnach robust bleiben werde. Zudem biete eine Vielzahl an Anbietern auf dem Digitalmarkt den Verlagen mehr Möglichkeiten, „jedem Titel individuell gerecht zu werden“. Auch der Digitaldienstleister „Bookwire“, der in seinem Katalog nach eigenen Angaben 41.000 Hörbücher und Hörspiele vertreibt, verkündete für 2017 ein Umsatzplus von 49 Prozent im digitalen Audiogeschäft. Dabei habe die Millionenreichweite von Portalen wie Spotify, Deezer oder Apple Music eine neue Zielgruppe zum digitalen Hörbuch gebracht, „die sonst wohl nicht zugegriffen hätte“, so die Einschätzung von Geschäftsführer John Ruhrmann.
Andere äußern dagegen Bedenken, was die Erlössituation für Verlage und Autoren betrifft, und erinnern vor allem an die durch Streaming-Portale ausgelöste Entwicklung in der Musikindustrie. Zu ihnen gehört Johannes Stricker von „Hörbuch Hamburg“, der kürzlich gegenüber buchreport sagte: „Kaum noch Musiker – bis auf wenige Stars – können von den Einnahmen leben. Ich bin also froh, dass das Hörbuch noch nicht die gleiche Entwicklung nimmt. Das hat natürlich neben der miserablen Vergütung durch die Konzerne auch eine Ursache darin, dass Plattformen wie Spotify, Deezer und Napster auf Musik und Songs eingestellt sind, das Hörbuch aber nur künstlich in dieses Format gepresst wird.“
Abzuwarten bleibt indes, wie sich die weitere Ausdifferenzierung des digitalen Markts auf die Erlösperspektiven der Verlage auswirken wird.
Öffentlich-rechtliche Audio-Angebote: gratis, vielfältig, hochwertig
Völlig umsonst bekommen Hörbuch-Fans hochwertige Audio-Inhalte in der neuen Audiothek-App der ARD. Das im April gestartete Angebot des
Senderverbunds kann vier Monate später bereits beachtliche 430.000 Downloads vorweisen. Jeder Sender entscheidet selbst, welche seiner Inhalte er in die Audiothek einstellen möchte. Das Angebot ist breit und reicht von Dokumentationen und Reportagen über Comedy und Lesungen bis zu Hörspielen. Zum Download bereitgestellte Audios können sogar offline genutzt werden. Dabei unterliegen die Audio-Produkte den gleichen Verweildauer-Regelungen wie alle anderen Onlineangebote der ARD. Heißt: Ist eine bestimmte, je nach Redaktion und Produktion unterschiedliche, Frist abgelaufen, verschwindet die Sendung aus der Audiothek.
Besonders beliebt: Der ARD Radio-Tatort, der kürzlich sein zehnjähriges Jubiläum feierte. Jeden Monat produziert eine andere Landesrundfunkanstalt eine neue Folge, die im Anschluss auf allen Kulturwellen des Senderverbunds im Zeitraum einer Woche zu unterschiedlichen Sendezeiten ausgestrahlt wird. In der App wird die Sendung durchschnittlich 75.000 Mal im Monat abgerufen. Insgesamt erreichte der Radio-Tatort über öffentlich-rechtliche und Drittanbieter-Portale 2018 im Schnitt 890.000 Abrufe im Monat (Stand April 2018), das sind 43 Prozent mehr als noch im Vorjahreszeitraum. Zu den Drittanbietern gehört übrigens auch Audible, wo Krimi-Hörspiel-Fans einige der Tatort-Folgen von RBB, SWR und WDR für ein halbes Monatsguthaben oder den Abo-Preis von 4,95 erwerben können.
Abseits des Digitalen vertreiben die Öffentlich-Rechtlichen ihre hochwertigen Hörspielproduktionen aber seit jeher auch über klassische Distributionswege. Zum Beispiel bei Der Audio Verlag, der zu den größten Hörbuchlabels der Branche gehört und zu dessen Portfolio umfangreiche Hörspielproduktionen von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gehören. Bis zum vergangenen Jahr waren WDR mediagroup GmbH, SWR Media Services GmbH sowie rbb media GmbH neben dem Spiegel-Verlag sogar Gesellschafter des DAV. Rückwirkend zum Januar 2018 wurde das Label allerdings von der Verlagsgruppe Random House erworben, die damit alleinige Eigentümerin wurde und ihre marktbeherrschende Stellung weiter ausbauen konnte.
Hörbuchmarkt wächst weiter
Branchenexperten und Verlage sind sich einig: Der Hörbuch-Boom wird andauern, das Wachstum ist noch längst nicht erschöpft. Auch die zunehmende Verbreitung von Smart Speakern wie Amazons Alexa wird den Markt voraussichtlich weiter antreiben. Entscheidend wird jedoch sein, wie sich die Verlage gegenüber der Marktmacht von Streaming-Anbietern behaupten können und ob es ihnen gelingt, zukunftsfähige digitale Geschäftsmodelle zu etablieren.