Ohne Kino: „Ben Hur auf der Armbanduhr“

Die Ausstellung in Bielefeld - auch virtuell erlebbar
Screenshot: www.diegrosseillusion.de/

Im Rahmen der Ausstellung „Die große Illusion“, mit der die Stadt Bielefeld seit September die Geschichte des Kinos würdigt, diskutierten am 11. Mai einheimische Kinobetreiber*innen mit dem langjährigen Berlinale-Leiter Dieter Kosslick über die Frage „Stirbt das Kino?“. Hintergrund des Gesprächs waren nicht nur die Schließungen aufgrund der Corona-Pandemie, sondern auch der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug der Streamingdienste. Das Fazit war eindeutig: Das Kino wird überleben. Aber klar wurde auch: Einfach wird es nicht.

Jede Krise hat auch Gewinner. Die Corona-Pandemie hat mehrere Branchen an den Rand des Ruins getrieben, aber Online-Anbieter haben in ganz erheblichem Maß von den Ausgangsbeschränkungen profitiert. Zu den Nutznießern gehören neben dem Versandhandel Amazon vor allem die Streamingdienste: Netflix, Disney+ und die Amazon-Tochter Prime Video konnten sich weltweit über einen erheblichen Zuwachs an Abonnent*innen freuen. Die Filmbranche stellt sich daher die bange Frage, ob sich die Menschen derart ans „Pantoffelkino“ gewöhnt haben, dass sie womöglich gar nicht mehr in die Kinos zurückkehren werden.

Kosslick verwies im Rahmen des Gesprächs allerdings darauf, dass das Kino schon ganz andere Herausforderungen bestanden habe, und erinnerte an die erste große Krise Ende der 1920er Jahre. Damals ist in Bielefeld das Lichttonverfahren und damit auch der Tonfilm erfunden worden; selbst Charlie Chaplin war überzeugt, dies sei gleichbedeutend mit dem Ende des Kinos. Neunzig Jahre später, noch vor Corona, habe der frühere Berlinale-Leiter bei seinem letzten Festival 2019 erneut die „Totenglöckchen“ gehört: Es gab Proteste am Roten Teppich, weil im Wettbewerb auch der von Netflix produzierte Film „Elisa und Marcela“ vertreten war. 2021 werde zeigen, welche „Kollateralschäden“ dieser „tödliche Cocktail“ – hier die Streamingdienste, dort Corona – verursacht habe.

Das Kinotrio in Bielefeld gab sich allerdings zuversichtlich: „Die Welt dreht sich weiter, und wir drehen uns mit ihr“, sagte Andrea Benarab, Theaterleiterin des örtlichen CinemaxX. Die weiteren Mitwirkenden waren Jürgen Hillmer, Geschäftsführer der Programmkinos Lichtwerk und Kamera, sowie Katharina Ellerbrock vom Off-Kino. Gerade Benarab und Hillmer sind sich der Herausforderung bewusst, die auf sie zukommt, wenn ihre Häuser endlich wieder öffnen dürfen. Allerdings sei die Situation auch nicht ganz neu, wie Benarab anmerkte, schließlich befänden sich die Kinos schon seit geraumer Zeit in einer erheblichen Konkurrenzsituation, nicht nur mit den Streamingdiensten, sondern mit allen anderen Freizeitaktivitäten, denen die Menschen außerhalb ihrer eigenen vier Wände nachgehen könnten. Tatsächlich bemühen sich die Kinos deshalb schon seit vielen Jahren, mehr als bloß eine Abspielstätte für bewegte Bilder zu sein: Der Kinobesuch soll zum Ereignis werden und allen nur erdenklichen Komfort bieten.

Die aktuelle Situation erinnert an die Fünfzigerjahre, als das Fernsehen zum Totengräber des Kinos zu werden drohte. Schon damals lautete die Frage, warum die Menschen ein Lichtspielhaus aufsuchen sollten, wenn sie bewegte Bilder ganz entspannt auf dem Sofa genießen könnten; aus dieser Zeit stammt der Begriff „Pantoffelkino“. Hollywood reagierte mit der Erfindung des sogenannten Monumentalfilms: große, mit enormem Aufwand hergestellte Produktionen wie „Quo Vadis“ (1951), „Die zehn Gebote“ (1956) oder „Ben Hur“ (1959), die ihre Wirkung einzig auf riesigen Leinwänden entfalteten. Diesen Ausweg gibt es heute nicht mehr. Gerade die Superheldenfilme kosten längst mehrere hundert Millionen Dollar, und in vielen Wohnzimmern stehen mittlerweile Bildschirme, die zum Teil so groß sind wie die Leinwände der Schachtelkinos. Deren Einführung in den frühen Siebzigerjahren war im Übrigen eine Reaktion auf einen massiven Besucherschwund: Weil die bis dahin üblichen Kinosäle mit bis zu tausend Sitzplätzen meist halb leer blieben, wurden aus einem großen Kino mehrere kleine; auf diese Weise konnten mehr Filme gezeigt werden, was wiederum zu mehr Besuchern führte. Kosslick wies zudem darauf hin, dass mittlerweile eine ganze Generation damit aufgewachsen sei, bewegte Bilder auf kleinen Bildschirmen zu betrachten. Er sprach bewusst überspitzt von „Ben Hur auf der Armbanduhr“.

Der frühere Berlinale-Chef brachte zudem die Kostenfrage ins Spiel. Ein Netflix-Abo koste 17,50 Euro im Monat, der Kinobesuch einer vierköpfigen Familie dagegen derart viel mehr, dass die Familie daheim sogar noch Pizza für alle bestellen könne. Ein in diesem Zusammenhang gern diskutierter Aspekt ist die Frage der Subventionierung. Während Programm- und Repertoire-Kinos in den Genuss verschiedener Fördermittel kommen können, sind Multiplex-Zentren den Gesetzen des Marktes unterworfen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie einen Großteil ihres Umsatzes nicht mit Eintrittskarten, sondern mit dem Verkauf von Süßwaren und Softdrinks machen. Sollten die Betreiber dieser Kinozentren je auf öffentliche Unterstützung hoffen, müsse sich Einiges ändern, sagte Kosslick, der vor seiner Berufung zum Berlinale-Chef neun Jahre lang Geschäftsführer der Filmstiftung NRW war: weil die Vergabe von Fördergeldern in Zukunft immer stärker mit Bedingungen wie Nachhaltigkeit und Klimaneutralität verknüpft sein werde. Er schloss mit einem Zitat aus dem von Luchino Visconti verfilmten Roman „Der Leopard“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa: „Es muss sich alles ändern, damit es so bleiben kann, wie es ist.“


Das Kino(pandemie)jahr 2020

Laut einer Statistik der Filmförderungsanstalt (FFA) sind 2020 über 80 Mio. Eintrittskarten weniger als 2019 verkauft worden; das entspricht einem Rückgang von fast 68 Prozent. Die Umsatzeinbußen lagen bei gut 700 Mio. Euro. Die Anzahl der Spielstätten ist um 6 (auf 1728) zurückgegangen, auch die Anzahl der Leinwände hat um 35 (auf 4926) abgenommen, aber die Zahl der Kinounternehmen hat sich nicht verändert.  Die FFA geht in ihrer Analyse jedoch davon aus, dass sich die wahren Auswirkungen der Krise erst in diesem Jahr zeigen werden. Der meistgesehene Film 2020 war „Bad Boys for Live“ mit 1,8 Mio. Besuchern; das hätte 2019 nicht mal für die Top Ten gereicht. tpg

 

 

 

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