Vor hundert Jahren gründete Walt Disney gemeinsam mit seinem Bruder Roy das Disney Brothers Cartoon Studio. Möglicherweise hatte er damals bereits die Vision, dass die Walt Disney Company eines Tages einer der wichtigsten Unterhaltungskonzerne der Welt sein würde. Als bekennender Republikaner, Antikommunist und Gewerkschaftsfeind wäre ihm allerdings wohl nicht mal im Traum eingefallen, dass ein Teenager in einem abendfüllenden Spielfilm des Studios sein Coming-out erleben würde. Gerade darin liegt jedoch der enorme Erfolg der Walt Disney Company: Das Unternehmen hat es stets verstanden, die Zeichen der Zeit zu seinen Gunsten zu nutzen.
Vermutlich hat jede Epoche die Filme, die sie verdient. In einigen Jahren wird es sicherlich kluge Erklärungen dafür geben, warum das Kino in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts von
Urheberrecht
Am 1. Januar 2023 war der Schutz für den 1928 erschienenen Zeichentrickfilm Steamboat Willie in den USA ausgelaufen. Damit darf nun jede*r den Film sowie Plane Crazy, einen weiteren Disney-Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1928, mit den darin vorkommenden Originalfiguren Mickey und Minnie Mouse kopieren, wiederverwenden und anpassen.
Auf der Liste finden sich zwar auch Animationsfilme wie „Die Eiskönigin“ (Teil 1 und 2), zwei „Toy Story“-Episoden sowie „Die Unglaublichen 2“, aber keines jener Zeichentrickwerke, mit denen vor allem Ältere den Namen Disney bis heute assoziieren, weil sie damit aufgewachsen sind. Eine subjektive Auswahl der Titel und vor allem die jeweiligen Produktionsjahre verdeutlichen, wie zeitlos viele dieser Filme waren, sodass sie immer wieder gezeigt werden konnten: „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1937), „Fantasia“ (1940), „Dumbo“ (1941), „Bambi“ (1942), „Peter Pan“ (1953), „Susi und Strolch“ (1955), „101 Dalmatiner“ (1961), „Das Dschungelbuch“ (1967), „Aristocats“ (1970); später folgten „Arielle, die Meerjungfrau“ (1989), „Die Schöne und das Biest“ (1991), „Aladdin“ (1992) und schließlich „Der König der Löwen“ (1994), der erfolgreichste klassische Zeichentrickfilm. Das junge Kinopublikum von einst ist mittlerweile im Großelternalter, und vermutlich fremdeln die Omas und Opas etwas, wenn ihre Enkelkinder sie dazu überreden, sich eine der jüngsten Disney-Produktionen gemeinsam anzuschauen; bis auf jene, die in ihrer Jugend Fans der Spider-Man-Comics waren.
Clevere Firmenpolitik
Aus Sicht des 200 Milliarden Dollar schweren Konzerns ist Nostalgie dagegen vermutlich eine zu vernachlässigende Größe, wenn nicht gerade ein Firmenjubiläum ansteht. Die Neuausrichtung gerade in den vergangenen beiden Jahrzehnten folgte ausschließlich ökonomischen Aspekten.
Micky Maus und Donald Duck mögen immer noch begehrte Fotomodelle in den Themenparks sein, aber seine monströsen Umsätze verdankt das einst von den Brüdern Walt und Roy Disney gegründete Unternehmen einer cleveren Firmenpolitik, die in erster Linie mit Bob Iger verbunden ist. In seiner ersten Amtszeit als Geschäftsführer (2005 bis 2020) schuf er die Basis für den aktuellen Erfolg, denn einige der größten Umsatzbringer verdankt Disney Produktionsfirmen, die in der Iger-Ära übernommen worden sind: Pixar („Toy Story“, „Findet Nemo“) im Jahr 2006 für 7,4 Milliarden Dollar, Marvel („Spider-Man“, „Avengers“) 2009 für 4 Milliarden Dollar, Lucasfilm („Star Wars“) 2012 für ebenfalls 4 Milliarden Dollar. Die mit Abstand teuerste Akquise war jedoch vor vier Jahren der Kauf der 1935 gegründeten 20th Century Studios (früher 20th Century Fox). Kaufpreis: 71 Milliarden Dollar. Die Dominanz auf dem Kinomarkt konnte auf diese Weise noch ausgebaut werden: Mit „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ (2009) und „Avatar: The Way of Water“ (2022, Regie jeweils James Cameron, Gesamtumsatz: 6 Milliarden Dollar) stammen zwei der drei umsatzstärksten Filme aller Zeiten von Fox.
Mit der Zeit gegangen
Nach dreijähriger Absenz ist Iger Ende vergangenen Jahres an die Konzernspitze zurückgekehrt; sein Nachfolger Bob Chapek erwies sich als glücklos, der Absturz der Aktie nahm zwischenzeitlich bedrohliche Ausmaße an. Das lag sicher nicht an ihm allein, zumal sich der noch unter Iger im November 2019 gestartete Streamingdienst Disney+ auf Anhieb in der Spitzengruppe platzieren konnte. Im dritten Quartal hatte die Plattform laut Statista weltweit knapp 150 Millionen Abonnenten. Erfolg hat jedoch immer zwei Seiten: Die Internet-Videothek profitierte zwar wie alle anderen Online-Dienste von der Corona-Pandemie, doch das Streaming-Publikum begnügte sich schon bald nicht mehr mit den bekannten Erzeugnissen aus der Marvel-Welt und dem „Star Wars“-Universum. Es mussten neue Produktionen her, und die erwiesen sich als ziemlich kostspielig, zumal Netflix mit seinen aufwändigen Serien einen hohen Standard gesetzt hat. Außerdem hatte die Pandemie zur Folge, dass die Themenparks schließen mussten und die Kinoumsätze einbrachen.
Für alle, die sich in erster Linie fesselnde Geschichten erzählen lassen wollen, sind die kaufmännischen Aspekte naturgemäß nebensächlich. Sie interessiert vor allem, ob ein Unternehmen mit der Zeit geht. Disney hat diese Erwartung lange Zeit unterschätzt, aber mit „Strange World“ (2022) einen Animationsfilm in die Kinos gebracht, der offenbar auf einen Schlag vieles wieder gut machen sollte: Ein abgeschieden lebendes Volk entdeckt eine umweltschonende Energieressource, ein Teenager erlebt sein Coming-out, viele Nebenfiguren sind betont divers. Dass der Film trotz seiner eindrucksvollen Optik ein Flop war, hing sicherlich auch mit einer gewissen Überfrachtung zusammen. Trotzdem ist die Entwicklung richtig. Disneys klassische Zeichentrickheldinnen entsprachen stets dem gleichen Stereotyp wie die meisten weiblichen Animationsfiguren: stets weiß, gern blond, immer mit Wespentaille. Das hat sich grundlegend geändert, gerade auch in den Neuverfilmungen: Die Hauptdarstellerin der Realfilmversion von „Arielle, die Meerjungfrau“ (2023), Halle Bailey, ist Afroamerikanerin. Prompt löste die Besetzung eine heftige Kontroverse aus (#NotMyAriel), schließlich hat das Mädchen im Märchen von Hans Christian Andersen zweifelsfrei eine weiße Hautfarbe. Außerdem wurde dem Konzern kommerzielles Kalkül vorgeworfen. Die neue Arielle war allerdings keineswegs die erste schwarze Heldin. 2010 wurde „Küss den Frosch“ mit dem „Oscar“ als bester Animationsfilm ausgezeichnet. Die Geschichte erinnert zwar an das Märchen vom Froschkönig, basiert aber auf dem Kinderbuch „Esmeralda, Froschprinzessin“. In der Disney-Adaption heißt das Mädchen Tiana, ist schwarz und kommt aus der Unterschicht.
In rechten Kreisen stößt die neue Philosophie selbstverständlich auf heftige Kritik. „Disneyfilme werden immer mehr zu Werkzeugen der Indoktrination“, hieß es zum Beispiel als Reaktion auf die Ankündigung, das Unternehmen wolle seine Inhalte integrativer gestalten. Den Konzern ficht das zum Glück nicht an. Seit 2021 können Werke wie „Dumbo“, „Peter Pan“, „Aristocats“ und „Das Dschungelbuch“ bei Disney+ nur noch von Erwachsenen abgerufen werden, sie sind zudem mit einer Triggerwarnung versehen: „Dieses Programm enthält negative Darstellungen und/oder eine nicht-korrekte Behandlung von Menschen oder Kulturen. Diese Stereotype waren damals falsch und sind es noch heute.“