Keine Rezension: Noch wach?

Foto: Jan-Timo Schaube

Das Timing der Kampagne ist genial, die Publikation ein fast perfekt orchestrierter Marketing-Coup. Das Buch erscheint pünktlich zur Leipziger Buchmesse. Nur eine Woche zuvor veröffentlicht „Die Zeit“ die umstrittenen WhatsApp-Ergüsse von Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner. Das höchst erfolgreiche Wochenblatt gehört zum Holtzbrinck-Konzern – ebenso wie der Verlag Kiepenheuer & Witsch. K&W, der jetzt mit einer Erstauflage von 160.000 Exemplaren den vermeintlichen „Schlüsselroman“ zu Springer, Reichelt und MeToo auf den Markt wirft. 

Seit Ende 2022 wurde die intrigenlüsterne Öffentlichkeit gezielt angefüttert, mit Häppchen über die unmittelbar bevorstehende Publikation. Flankiert von einer Vorberichterstattung, die die Erregungskurve ausschlagen und die rezensionswilligen Feuilletonisten mit den Hufen scharren lässt. Ein Kalkül, das nicht schiefgehen kann. Sofort nach Erscheinen springt das Werk auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Eine Woche später (27.4.) liegt die Auflage bereits bei 280.000 Exemplaren.

Wer ist der Autor? Benjamin von Stuckrad-Barre (BSB), Vertreter der sogenannten Pop-Literatur. Von 2008 bis 2018 in Diensten Springers, unter anderem 2012 Mitautor einer Jubiläums-Revue zum 100. Geburtstag von Axel Cäsar Springer (BSB: „Wir wollten Axel Springer lebendig machen und zumindest für diese 100 Minuten aus dem Klischee-Kerker erlösen.“), Freundschaft mit Springer-Boss Mathias Döpfner, später Zerwürfnis wegen dessen Festhalten am damaligen „Bild“-Chef Julian Reichelt, in der Folge wohl aus enttäuschter Liebe Autor der ersten Döpfner-Leaks (Reichelt als letzter aufrechter Kämpfer gegen „den neuen DDR-Obrigkeitsstaat“, der Rest der deutschen Journaille allesamt „Propaganda-Assistenten“ etc.). Jetzt Verarbeitung dieser Erfahrungen in Form eines Romans, daher ohne Klarnamen, aber „in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen“. Mit leicht verschwörerischem Raunen: „Ein Roman, also eine Fiktion, kann wahrer sein als die Wirklichkeit.“ (BSB) Jedwede Ähnlichkeit mit realen Personen und Handlungen daher selbstredend von der Kunstfreiheit gedeckt. 

Die Präsentation des Werks findet standesgemäß in Form einer Lesung statt – im Berliner Ensemble, der Bühne Bertolt Brechts. Episches Theater, Verfremdungseffekt und so – schon klar. Im Publikum: viel Medien- und Kultur-Prominenz. Unter Propagandagesichtspunkten die halbe Miete, da alle, „die in den Saal passten, per Instagram das ganze Spektakel in die Timelines interessierter Beobachter speisten“ (Samira El Quassil in „Übermedien“).

Absehbar zu den Hauptgewinnern zählen dürften: die Medienjuristen. Wobei sich die Grenzen zwischen Fiktion und Realität auf kuriose Weise vermischen. Reichelts Anwalt Ben Irle prüft schon mal, ob sein Mandant im Werk von BSB erkennbar ist, noch dazu „im Kontext frei erfundener Vorwürfe“. 

Ein Anwalt derselben Kanzlei, die Reichelt vor dem Vorwurf übergriffigen Verhaltens im Verlag und systematischen Machtmissbrauchs verteidigen soll, vertritt eine der Frauen, die genau diese Vorwürfe gegen Reichelt erhoben haben. Ein Fall für die Anwaltskammer?

Reichelts Ex-Chef Döpfner wiederum verklagt seinen einstigen Adlatus, vor kurzem noch „letzter Kämpfer gegen einen neuen DDR-Obrigkeitsstaat“, auf Rückzahlung der beim Rauswurf erhaltenen Abfindung samt einer Vertragsstrafe wegen Ausplauderns von Unternehmensinterna. Denn der ist mutmaßlich Absender der Döpfner-Leaks II, also der wenig schönen Suada des Springer-Chefs zu Ossi-Befindlichkeiten, „intolerant moslems und all dem anderen Gesochs“.

Einst galt auch in der Medienbranche die Devise: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Solange die Anzeigeneinnahmen sprudelten, die Auflagen leidlich stabil waren, herrschte ein relativer Burgfrieden. Seit aber das analoge Geschäftsmodell der Zeitungsbranche auf dem Sterbebett liegt, sind die Sitten rauher geworden. 

Beispielhaft lässt sich dies auf dem Zeitungsmarkt der Hauptstadt beobachten. Hier liefern sich speziell Holtzbrinck und der Berliner Verlag ein – allerdings ungleiches – Duell. Während das Holtzbrinck-Blatt „Der Tagesspiegel“ sich dank Steigerung der Digital-Abos mit gut 94.000 verkauften Exemplaren behauptet, haben „Berliner Zeitung“ und „Berliner Kurier“ – wohl aus gutem Grund – vor zwei Jahren ihre Meldungen an die IVW-Auflagenstatistik eingestellt. 

Umso wütender fallen die Attacken gegen die Konkurrenz aus. „Voyeurismus pur: Wie ´Die Zeit´ zu Deutschlands größter Boulevard-Zeitung wurde“, wettert etwa Jesko zu Dohna, Chefreporter der „Berliner Zeitung“. Anlass dieses Angriffs: Die Döpfner-Leaks II, verharmlost als „Veröffentlichung von aus dem Zusammenhang gerissenen WhatsApp-Nachrichten“, inklusive „Witwenschütteln oder Verdachtsberichterstattung bis tief ins Privatleben hinein“. Für zu Dohna hat „der ehrwürdige und sonst so gutmenschliche Zeit-Verlag, die ethische Instanz aus Hamburg, mit seiner Döpfner-Enthüllung der Bild-Zeitung den Rang abgelaufen“. 

Schon Anfang Februar hatte sich die „Berliner Zeitung“ in einem mehrseitigen Special prominent dem „House of Holtzbrinck“ gewidmet. Darin prangerte das Blatt mangelnde Transparenz und Vermischung von redaktionellen und wirtschaftlichen Interessen in den Medien des Stuttgarter Konzerns an. Offenbar eine Retourkutsche auf Berichte des „Tagesspiegels“ über ein ähnliches Vergehen in der „Berliner Zeitung“ im Jahr 2019. Die hatte damals über den Börsengang eines Unternehmens berichtet, an der Verleger Holger Friedrich selbst beteiligt war. 

Derselbe Friedrich, dem – wie eine erstaunte Öffentlichkeit nun erfuhr – die umstrittenen Döpfner-Aussagen von Julian Reichelt höchstselbst zwecks Skandalisierung angeboten worden waren. Was laut „Manager-Magazin“ von Friedrich aber abgelehnt worden sei – wegen mutmaßlicher Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Als handle es bei den rassistischen Ergüssen, die der Springer-Vorstandschef im Chat an hochrangige Konzernmitarbeiter adressiert habe, um rein private Äußerungen. Dass sich Friedrich dabei leichthin über das journalistische Grundprinzip des Quellenschutzes hinwegsetzte, kümmert ihn offenbar wenig. Schlimmer: Er wolle, so der Verleger zur Verteidigung dieses Tabubruchs, eine Debatte über ethische Standards und journalistische Verantwortung anstoßen. Das sei ein wenig, kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“, „als laufe man mit einem Revolver in eine Schule, weil man über Schulschießereien debattieren möchte.“

Über all diesen Intrigen, Widersprüchen und Voyeurismen gerät der eigentliche Skandal in den Hintergrund: der alltägliche Sexismus und Machtmissbrauch in bundesdeutschen Medien, sexualisierte Gewalt und MeToo in mehr als einer Redaktion. Zu Recht verweisen Feminist*innen auf die vor allem im Feuilleton großer Redaktionen unkritische Rezeption des Bestsellers von Stuckrad-Barre. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen als Ratespiel in Buchformat? Dass ausgerechnet BSB sich in eine Enthüller-Pose werfe, erscheine angesichts seiner langjährigen Beziehung zu Döpfner und zum Springer Konzern höchst fragwürdig. 

Eine Kritikerin spricht vom „blitzmoralisierten“ Autor, der gleichsam vom Saulus zum Paulus mutiert sei. Oder, in der Diktion der Neuen Frankfurter Schule: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ Schließlich handle es sich um einen Autor, „der selbst so viele Jahre vom System des Machtmissbrauchs bei Springer profitiert hat, für wenige Texte im Jahr irritierend hoch entlohnt wurde und offensichtlich schon lange von den Vorwürfen zu sexualisierter Gewalt wusste“, moniert zum Beispiel Pinkstinks, eine feministische Bildungs-NGO. Dass das „literarische Männleinwunder“ irgendeinen Beitrag zu nachhaltiger Auseinandersetzung mit diesem Machtmissbrauch leisten könnte, erwartet das Pinkstinks-Team nicht. Und empfiehlt Stuckrad-Barre, sein Honorar einer einschlägigen Frauenrechtsorganisation zu spenden.  

Die IVW attestiert übrigens der „Bild“-Zeitung im 1. Quartal eine Verkaufsauflage von 823.273 Exemplaren (Abo und Einzelverkauf) – ein erneut dramatisches Minus von 12,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Manche Probleme löst eben doch der Markt.

Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“,  Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 384 Seiten, 25 Euro

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