In Deutschland hat sich in den letzten Jahren eine immer pressefeindlichere Stimmung ausgebreitet, das zeigt die jetzt veröffentlichte Nahaufnahme Deutschland von Reporter ohne Grenzen (RSF). Während der Pandemie schnellte die Zahl der Übergriffe auf Berichterstattende in die Höhe. Auch der Rückblick auf das vergangene Jahr zeigt: Diese Tendenz ist noch nicht vollständig zurückgegangen. Für 2023 konnte RSF 41 Übergriffe auf Medienschaffende verifizieren. Im Jahr 2022 waren es 103.
Zum Vergleich: 2019, vor der Pandemie, waren es 13. Die Nahaufnahme beschäftigt sich mit einer Vielzahl an presserelevanten Aspekten – zum Beispiel zu den Themen Gesetzgebung und Überwachung – und gibt einen Überblick über die gewaltsamen Angriffe auf Reporterinnen und Reporter.
„Im vergangenen Jahr wurden Reporter wieder verprügelt, ihre Ausrüstung wurde zerstört und ihnen wurde im Internet massiv gedroht. 2024 startete unter anderem mit der brutalen Körperverletzung eines Journalisten am Rande einer Demonstration in Leipzig. Zudem beobachten wir eine gefährliche neue Art der Aggression: Landwirte haben kürzlich mit Trecker-Blockaden und Misthaufen die Auslieferung von Zeitungen in mehreren Bundesländern verhindert”, sagt Michael Rediske, Mitgründer der deutschen Sektion von RSF und amtierendes Vorstandsmitglied. Das zeigt, dass die Freiheit, unabhängig zu berichten, hierzulande nicht nur durch Übergriffe gegen einzelne Medienschaffende bedroht ist. Unzufriedenheit mit einer angeblich zu geringen Berichterstattung über Bauernproteste reicht offenbar aus, um bei Angriffen gegen die Pressefreiheit die Hemmschwelle weiter zu senken.”
Gewalt gegen Medienschaffende und Redaktionen
2021 gab es 80 Angriffe, 2022 waren es 103. Für 2023 verifizierte Reporter ohne Grenzen nun 41 Übergriffe. Damit bleiben die Zahlen im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie vergleichsweise hoch: 2019 waren es 13. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer.
Am häufigsten waren im Jahr 2023 Tritte und Faustschläge oder Schläge mit Gegenständen wie Fackeln oder Trommel-Schlegeln. Als Angriff gewertet sind diese, sofern sie Körper oder Ausrüstung von Journalistinnen und Journalisten tatsächlich getroffen haben. Medienschaffenden wurde auch Ausrüstung entrissen, sie wurden zu Boden gerissen, mit Sand und Steinen beworfen oder in einem Fall mit Fäkalien beschmiert.
Übergriffe nach Ländern
Die meisten der 41 für das Jahr 2023 verifizierten Angriffe – zwei Hacker-Angriffe können nicht geografisch zugeordnet werden – ereigneten sich in Sachsen (12), gefolgt von Bayern (6), Berlin (5), Nordrhein-Westfalen (5), Niedersachsen (4), Hamburg (2), Hessen (2), Rheinland Pfalz (1), Thüringen (1) und Schleswig-Holstein (1). Der gefährlichste Ort für Medienschaffende waren auch 2023 politische Versammlungen wie Partei-Veranstaltungen, Demonstrationen oder Protestaktionen. Dort kamen 32 von insgesamt 41 Fällen vor. Besonders pressefeindlich ging es erneut bei der Berichterstattung im Umfeld von verschwörungsideologischen oder rechtsextremen Versammlungen zu. Hier fand 2023 mit 18 von 41 verifizierten Fällen ein Großteil der Angriffe statt.
Auch für Januar und Februar wurden RSF bereits einige alarmierende Vorfälle gemeldet. Weitere Details zur Lage der Pressefreiheit in Deutschland im internationalen Vergleich wird Reporter ohne Grenzen am 3. Mai zusammen mit der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit veröffentlichen.
Überwachung und Gesetzgebung in EU und Deutschland
Schwerpunkt der öffentlichen Debatten waren in diesem Jahr die Auseinandersetzungen um die gesetzlichen Grundlagen der Informationsfreiheit, in Deutschland und auf EU-Ebene. Die wichtigsten Reformvorhaben auf EU-Ebene, der European Media Freedom Act und der Digital Services Act, sind jetzt in Brüssel verabschiedet und müssen in Deutschland umgesetzt werden.
Strittig sind unter anderem der staatliche Einsatz von Spähsoftware, der den Quellenschutz journalistischer Arbeit untergräbt, sowie Regelungen im Spannungsfeld zwischen einerseits Verhinderung von Desinformation und Verleumdungen auf Plattformen und andererseits den Rechten von Whistleblowern wie Journalist*innen auf Anonymität und Schutz ihrer Kommunikationspartnerinnen und -partner. RSF fordert mit seiner politischen Arbeit verbesserte rechtliche Bedingungen. So zielt eine erneute Klage vor dem Bundesverfassungsgericht auf mehr Beschränkungen für Überwachung der Kommunikation von Medienschaffenden durch „Staatstrojaner“, also von staatlichen Stellen eingesetzte Überwachungs-Software.
Zudem legte das Bundesministerium der Justiz im April 2023 Eckpunkte für ein Gesetz gegen digitale Gewalt vor. Bislang existiert jedoch noch kein vom Kabinett gebilligter Entwurf. RSF hat gemeinsam mit der Organisation Neue Deutsche Medienmacher*innen das Gesetzesvorhaben begrüßt, zugleich aber Verbesserungen gefordert. RSF begrüßt auch das Inkrafttreten des Hinweisgeberschutzgesetzes im Juli 2023, kritisiert jedoch Einschränkungen der schließlich in Kraft getretenen Fassung. Whistleblower dürfen Missstände nicht sofort veröffentlichen lassen, sondern müssen mit Informationen von öffentlichem Interesse zunächst an nicht öffentliche interne oder externe Meldestellen herantreten.
Überdies überziehen europaweit mächtige Akteure, zumeist finanzstarke Unternehmen, einzelne Journalis*tinnen oder Medienhäuser mit Zivilklagen, um sie einzuschüchtern und von unliebsamen Veröffentlichungen abzuhalten. RSF beobachtet diese rechtsmissbräuchlichen Klagen, SLAPPs (kurz für „strategic lawsuits against public participation“), und wird das Thema auch 2024 stärker in den Fokus rücken.
Medienvielfalt geht weiter zurück
Im Vordergrund der publizistischen Auseinandersetzung stand das ganze Jahr 2023 der Streit um die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die anstehende Anpassung des Rundfunkbeitrags an die Inflation stößt auf Widerstand einer Reihe von Landesregierungen. Alle Landesparlamente müssen diese beschließen. Etliche Ministerpräsidentinnen und -präsidenten fordern stattdessen tiefgreifende Strukturreformen beziehungsweise eine Verkleinerung von ARD und ZDF.
Für das Demokratieverständnis von RSF ist es grundlegend, dass sich Nutzende aus inhaltlich unterschiedlichen Quellen informieren können. Dies ist eine wichtige Bedingung für funktionierende Pressefreiheit. Deutschland verfügt zwar historisch mit seinem Netz aus bundesweiten, regionalen und Lokalzeitungen sowie mit seinem dualen System aus öffentlich-rechtlichen und privaten Hörfunk- und Fernsehanbietern über ein im internationalen Vergleich hohes Niveau an Medienvielfalt. Im Zuge von Digitalisierung und veränderten Nutzungsgewohnheiten ist jedoch die Vielfalt des lokalen Zeitungsangebots seit langem rückläufig. Alle Prognosen weisen darauf hin, dass dieser Prozess weitergehen und eine noch größere Bedrohung für die Pressefreiheit werden wird.