Umfangreiche Recherche trotz geringer Ressourcen in Sachen Nazi-Untergrundgruppen
Peter Ohlendorf startete 2014 das NSU-Rechercheprojekt „Heilbronn-Komplex“. Der Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München arbeitete lange Jahre für den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk. Heute produziert er in Freiburg mit einer eigenen Firma Dokumentarfilme. 2012 hatte sein Aufsehen erregender Enthüllungsfilm „Blut muss fließen. Undercover unter Nazis“ über die europäische Szene der Nazi-Konzerte auf der Berlinale Premiere.
M | Ende März starb im Kreis Karlsruhe eine Zeugin des NSU-Untersuchungsausschusses des Landtags von Baden-Württemberg. Sie war eine Vertraute des noch wichtigeren Zeugen Florian Heilig gewesen, der 2013 kurz vor seiner womöglich brisanten Aussage zum NSU in seinem Auto verbrannte. Die Frau starb angeblich überraschend an einem Blutgerinnsel, das sich nach einem leichten Motorradunfall gebildet haben soll. Haben Sie Zweifel an der offiziellen Version?
PETER OHLENDORF | Grundsätzlich sollten wir als Journalisten und Journalistinnen Zweifel haben – vor allem in dem Kontext. Gerade in Baden-Württemberg ist die Aufarbeitung des NSU leider überhaupt nicht so betrieben worden, wie es nötig gewesen wäre. Wir müssen gucken, wo wir Fakten ans Tageslicht bringen können und da muss man sich schon fragen: Wie viele Zeugen sterben eigentlich noch auf schwer erklärbare Weise weg? Im neuesten Fall müssen wir die Obduktionsergebnisse abwarten, aber auch mit langem Atem drum herum recherchieren.
Sie recherchieren seit über einem Jahr zum „Heilbronn-Komplex“. Was ist das, und zählen Sie die Verstorbene dazu?
Da bin ich vorsichtig. Dieser Komplex liegt im Dunklen. Wir bearbeiten eine Spur, kommend aus Oberweißbach, dem Heimatort der Polizistin Michèle Kiesewetter, durch Thüringen, Ludwigsburg, Heilbronn, wo sie ermordet wurde, bis runter nach Schwäbisch Hall, wo der Ku-Klux-Klan zugange war. Deswegen sprechen wir vom „Heilbronn-Komplex“. Unsere Arbeitshypothese ist: In Heilbronn liegt der Schlüssel zum NSU, zu Fragen wie: Wer war der NSU wirklich? In welche Bereiche hat er hinein gestrahlt, an die heute noch niemand denkt? In Heilbronn sind durch zahlreiche Zeugenaussagen Spuren offen gelegt worden, denen man nachgehen muss, denen aber die Ermittlungsbehörden nicht mit der Intensität nachgegangen sind, die von ihnen eigentlich zu erwarten ist. Angesichts dieser Spuren muss man sich fragen: War es wirklich die immer noch vom Generalbundesanwalt behauptete Zufallstat? Wir stellen das massiv in Frage.
Auch nach dem Tod von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Florian Heilig wurden nicht alle Spuren gesichert. Die Suizid-These war aber schnell zur Hand. Mit Unvermögen ist das doch nicht zu erklären, oder?
Wir sind nicht mehr bereit, von Pannen zu reden. Es gibt zu viele Ermittlungsfälle, wo Menschen offensichtlich nicht zu Arbeiten in der Lage waren, die zum kleinen Einmaleins eines professionellen Ermittlers gehören. Ich nenne das eine Struktur des Nicht-Ermittelns. Der Thüringer Untersuchungsausschuss stellte sogar die Frage, ob es Sabotage durch Akteure in Ermittlungsbehörden gab. Ich glaube, dass es Einzelne in durchaus wichtigen Positionen gibt, die anderes im Kopf haben als eine demokratische Grundordnung. Diese Leute muss man zur Verantwortung ziehen. Es gab aber weder für die Sicherheitsbehörden als Ganzes, noch für einzelne Personen wirkliche Konsequenzen.
Bei so vielen Ungereimtheiten sitzen sicherlich investigative Teams großer Medien den Behörden im Nacken. Was wissen Sie über die Recherchen von Kollegen?
Das ist eine spannende Frage: Wer begegnet uns auf den Wegen, die wir in der Recherche gehen? Ich kann nur sagen: erschreckend wenige. So ist uns die immer wieder hervorgehobene Kooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung noch nie begegnet. Ich habe nicht den kompletten Überblick, aber ich lese in den Medien ganz selten eine neue Erkenntnis für uns. Wenn wir Recherche-Gespräche führen, die abseits des üblichen Korridors zum Thema NSU liegen, hören wir nie, dass dort schon andere waren. Wir reisen eine Menge, müssen viel Vertrauen aufbauen zu Menschen, die nicht unbedingt bereit sind, gleich den Mund aufzumachen. An einem Fall sind wir seit einem Jahr dran. Wenn dieses Türchen aufgeht, kommen wir in einen ganz interessanten Raum hinein. Da müssen Sie Geduld haben und glaubwürdig bleiben, und nicht der schnellen Schlagzeile hinterherjagen. Es ist erschütternd, wie viele Menschen nicht verstehen, was wir machen – auch Kolleginnen und Kollegen. Die fragen dann: Was wird daraus eigentlich, was ist am Ende euer Produkt? Wir wissen aber noch nicht, was für eine Form der Publikation das wird: ein Film, ein Buch, eine Serie in einer Zeitung?
Wie viele Menschen recherchieren mit Ihnen zum „Heilbronn-Komplex“?
Wir haben zwei Halbtagsstellen, von der eine nicht langfristig abgesichert ist. Ich selbst arbeite „für umme“ so viel wie möglich mit, bin aber auch noch viel mit dem Film „Blut muss fließen. Undercover unter Nazis“ auf Tour. Ein nicht unwesentlicher Teil meiner Zeit geht immer noch dafür drauf, eine finanzielle Basis für dieses Projekt zu finden. Immerhin wird die DGB-Jugend eine Ein-Euro-Kampagne mit uns machen und dazu ihre Mitglieder ansprechen. Wenn von den rund 500.000 Mitgliedern nur zehn Prozent einen Euro spenden, dann hätten wir die beiden Halbtagsstellen zumindest für ein weiteres Jahr finanziert. Dann könnten wir alles das, was jetzt auf dem Tisch liegt, mit größerer Intensität angehen. Wir müssen das weiterverfolgen, denn sonst sterben uns womöglich Quellen ab. Wir brauchen Zeit und Geld zum Reisen, denn wir müssen mit den Leuten direkt sprechen.
Stichwort Zeit: Sie haben in einem im Oktober erschienenen Interview kritisiert, der Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg habe zu wenig Zeit, um das Thema grundsätzlich genug anzugehen, weil die Legislaturperiode bald endet. Haben Sie wirklich die Sorge, dass diese Arbeit mit dem Ende der Legislatur vorbei ist?
Ja. Ich kann mich auch nur wundern, wie sich ein Innenminister Gall (SPD) halten kann, der immer wieder dafür geworben hat, keinen Untersuchungsausschuss zu machen und der damit trotz massivster Kritik von außen lange Zeit in der Regierungskoalition erfolgreich war. Ich weiß nicht, wie ernsthaft der Wille ist, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich weiß nicht, ob überhaupt das Kapitel Florian Heilig in der verbleibenden Zeit angemessen abgearbeitet werden kann. Im Spätherbst soll ja schon der Abschlussbericht geschrieben werden. Es würde mich nicht wundern, wenn dann gesagt wird: Es hat sich gezeigt, dass einiges falsch gelaufen ist, aber es ist nicht so gravierend, dass man einen zweiten Untersuchungsausschuss einrichten muss. Es gab schon einigen Erkenntnisgewinn, aber das wurde im Ausschuss doch sehr zurückhaltend bewertet. Ich bin also sehr skeptisch.
Mit Peter Ohlendorf sprach Ralf Hutter
M berichtete: https://mmm.verdi.de/medien-gesellschaft/02-2012/blut-muss-fliessen-undercover-unter-nazis
Spendenkonto:
Peter Ohlendorf,
DE54 6805 0101 0013 3406 47
Stichwort: „Heilbronn-Komplex“
www.filmfaktum.de/de/2014-02-03-17-19-57/infos/355-unterstuetzung.html