Um junge Zielgruppen zu erreichen, entwickeln öffentlich-rechtliche Medien in Europa neue Nachrichtenprodukte wie „heute+“ und lassen sich auf eine „Vernunftehe“ mit kommerziellen Plattformen wie Facebook ein. Damit erfüllen sie ihren Integrationsauftrag und erhöhen die Reichweite – allerdings auf Kosten ihrer Unabhängigkeit. Das sind Ergebnisse eines Projekts am Reuters Institute for the Study of Journalism.
Die Münchener Medienwissenschaftlerin Annika Sehl, die von 2015 bis 2018 als Research Fellow am Reuters Institute arbeitete, stellte auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) zwei Studien aus dem Projekt zur digitalen Transformation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Europa vor. Es geht dabei um die Entwicklung neuer Nachrichtenprodukte und um das Verhältnis der Sender zu kommerziellen Plattformen.
Entwicklung neuer digitaler Nachrichtenprodukte
Das Forschungsteam von Annika Sehl, Alessio Cornia und Rasmus Kleis Nielsen führte Leitfadeninterviews mit Führungskräften, Nachrichtenredakteur*innen und Produktentwickler*innen aus acht öffentlich-rechtlichen Medienorganisationen in sechs europäischen Ländern: Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Polen. Zwischen Dezember 2016 und Februar 2017 wurden diese zum Entwicklungsprozess eines digitalen Nachrichtenprodukts befragt. In Deutschland ging es z.B. um heute+, ein digitales Nachrichtenformat des ZDF. Seit 2015 wird heute+ um 23 Uhr zunächst über Facebook und Periscope verbreitet und gegen Mitternacht im ZDF-Fernsehen ausgestrahlt. Und natürlich ist die Sendung dann in der ZDF-Mediathek abrufbar.
Die Forscher*innen stellten fest, dass die Produktentwicklung zumeist isomorph verlief, d.h. „jeder kopiert“ und lässt sich von allen inspirieren. Die öffentlich-rechtlichen Medienorganisationen schauten auf erfolgreiche digitale Start-ups wie Vice oder Vox.com; sie orientierten sich aber kaum an kommerziellen Sendern, sondern wegen der größeren Ähnlichkeit zumeist aneinander und tauschten sich über die europäische Rundfunkorganisation EBU aus. „Was BuzzFeed und Vice machen, ist cool, denn die erreichen junge Leute“, zitierte Sehl einen Interviewten, der mit Blick auf das Alte-Publikum-Image seines Senders zu bedenken gab: „Wenn wir das kopieren, sind wir vom ZDF aber mit unserem Absender zum Scheitern verurteilt.“ Kopiert würden Ideen, dann eigene Produkte entwickelt, „danach die Klickzahlen angeguckt und eventuell nachjustiert“, so Sehl. Publikumsforschung zum Test der neuen Produkte würden aus Zeitgründen nur wenige betreiben. ARD Aktuell hat das zum Beispiel 2016 bei der Entwicklung einer neuen Tagesschau 2.0. App gemacht.
Größere Reichweite durch Zusammenarbeit
Die Forscher*innen führten mit leitenden Social-Media-Redakteur*innen in den sechs europäischen Rundfunksendern Interviews zu ihrem Verhältnis gegenüber Plattformen- Facebook, Twitter, Instagram. Die öffentlich-rechtlichen Medien stehen unter Druck, eine Strategie zu entwickeln, denn ihnen fehlt die junge Zielgruppe, die vor allem über Social Media auf die Nachrichten-Website geführt wird, erläuterte Sehl. Alle hätten offline eine größere Reichweite als online, wo Facebook erfolgreicher sei. Das bestätigt die aktuelle Report Reuters Institute Digital News Survey 2018: Als „wöchentlich genutzte Nachrichtenquelle“ nennen die ab 45-Jährigen überwiegend das Fernsehen, während bei den 18- bis 34-Jährigen das Internet dominiert.
„Viele machen mit, weil sie kurzfristig belohnt werden“, beschrieb Sehl die Haltung der öffentlichen Medienorganisationen gegenüber Facebook und Co. Sie erhielten durch die Zusammenarbeit eine größere Reichweite und mehr junges Publikum, riskierten aber ihre Unabhängigkeit gegenüber den kommerziellen Plattformen mit vorgegebenen Algorithmen. Befragte charakterisierten ihr Verhältnis zu den Internetunternehmen denn auch als „Vernunftehe“. Einerseits könnten sie über Social Media ihren gesellschaftlichen Integrationsauftrag erfüllen, indem sie mehr junges und bildungsfernes Publikum erreichen. Andererseits gehe ihnen die Kontrolle über den Vertriebsprozess verloren. „Das ist erst einmal süßes Gift“, habe eine ARD-Führungskraft kommentiert.
In der Zusammenarbeit mit Facebook, Twitter und Instagram verfolgen die öffentlichen Rundfunkanstalten zwei unterschiedliche Strategien. Franceinfo und Polskie Radio sind Beispiele für die off-site-Strategie. Diese zielt darauf, das Publikum auf die eigene Website zu holen, „sonst geben wir denen umsonst unsere ganzen Inhalte“, so Befürchtungen der Franzosen. Auch die italienische RAI, die britische BBC und YLE in Finnland setzen auf Verlinkung mit der eigenen Website. Anders ARD und ZDF in Deutschland, sie verfolgen eine on-site-Strategie, die weitgehend auf eine Verlinkung verzichtet, denn sie wollen, dass die Menschen ihre Inhalte vor allem in der Social Media-Umgebung nutzen.
Alle öffentlichen Medienorganisationen haben eigene Social-Media-Teams, verfolgen ähnliche Strategien und passen sich für mehr Reichweite den Plattform-Algorithmen an. Und so werde „die Diskussion über eine eigene öffentlich-rechtliche Plattform in Europa durch die Reichweiten-Diskussion oft im Keim erstickt“, kritisierte Sehl.