Arme Berlinale!

Etwa 90 überwiegend junge Kino-Beschäftigte aus ganz Deutschland waren dem ver.di-Aufruf gefolgt, um am 8. Februar 2019 zur Berlinale für existenzsichernde Löhne zu demonstrieren
Foto: Christian von Polentz

Während gestern Glanz und Glamour über den roten Berlinale-Teppich liefen, haben nur ein paar Meter weiter etwa 90 Kino-Beschäftigte aus ganz Deutschland für existenzsichernde Löhne demonstriert. Kaum mehr als den aktuellen Mindestlohn von 9,19 Euro verdienen die meisten von ihnen – und steuern damit geradewegs auf die Altersarmut zu. Heute wird weiter protestiert, ab 19 Uhr direkt vorm Berlinale-Palast und später vorm Ritz-Carlton.

1600 Euro brutto bei einer 39-Stunden-Woche, Mindestlohn also, so viel verdient in der Regel ein*e Vollzeitbeschäftigte*r in deutschen Kinos. Dazu werde fast jeder Arbeitsplatz bei einer Neueinstellung befristet – egal ob „Kinosaison“ ist oder nicht, sagt Jörg Reichel, bei ver.di Berlin-Brandenburg unter anderem zuständig für den Kinobereich. Weil man nach Berechnungen der Bundesregierung allerdings mindestens 12,63 Euro pro Stunde verdienen müsste, um nicht arm im Alter zu sein, „wird für die langjährig Beschäftigten das Jobcenter im Alter die Realität“, kritisiert Reichel. Allein in Berlin arbeiteten laut dem Gewerkschaftssekretär 1500 Beschäftigte in ca. 100 Kinos, davon unter einem Tarifvertrag ca. 450 Beschäftigte in acht Kinos. Jeder Cent mehr als der Mindestlohn habe in der Vergangenheit mit Warnstreiks durchgesetzt werden müssen. Dabei hätten sich die Umsätze der Kinos seit dem Krisenjahr 2007 um ca. 30 Prozent gesteigert. Grund dafür sei neben den um 40 Prozent gestiegenen Eintrittspreisen der erhöhte Verkauf von Essen und Getränken in den Kinos, so Reichel.

Teurer geworden sind aber auch die Lebenshaltungskosten, vor allem in den Großstädten wie Berlin oder Hamburg. Seit der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 sind die Mietpreise in Berlin um durchschnittlich 25 Prozent gestiegen, die Einstiegsgehälter der Kinobeschäftigten hingegen stagnieren bei unter 10 Euro. „Der Rote Teppich auf der Berlinale gaukelt eine heile Welt vor – für die jungen Beschäftigten reicht der Lohn nicht mehr für die Miete. Der Kulturort Kino lehrt sie, dass Arbeit nicht zum Leben reicht“, prangert Reichel die Einkommensverhältnisse an.

Dem ver.di-Aufruf zur Demo nach Berlin waren deswegen auch überwiegend junge Menschen gefolgt, die meisten von ihnen gut ausgebildet, trotz mieser Bezahlung mit Leidenschaft für ihren Beruf. Sie kommen aus Kiel, Göttingen, Hamburg, Harburg, manche sind sogar aus dem Saarland angereist. Sie arbeiten in CinemaxX-, CineStar- oder den Yorck-Kinos, in allen drei Häusern laufen in diesem Jahr Tarifrunden. Ein junger CineStar-Mitarbeiter aus Bamberg sagt: „Es geht um die Wertschätzung der Leidenschaft, die wir in einem so tollen Beruf wie dem Kinoberuf auch den Gästen gegenüber bringen. Kino ist ja etwas Tolles und das leben wir auch und dafür möchten wir auch angemessen gewertschätzt werden.“

Der Wertschätzung der meisten Berlinale-Besucher*innen können sich die Demonstrant*innen schon mal sicher sein. Sie verteilen Flugblätter auf Deutsch und auf Englisch, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und stoßen dabei größtenteils auf viel Solidarität unter den Passantinnen und Passanten. „We care“ sagt etwa ein Pärchen, das wegen des Filmfestivals nach Berlin gekommen ist und von einem Streik der Londoner Kinobeschäftigten berichtet, die ebenfalls nur mit dem Mindestlohn abgespeist würden. Zu geringe Löhne angesichts explodierender Lebenshaltungskosten: offenbar ein strukturelles Problem nicht nur der deutschen Kinobranche.

Streiks im Berlinale-CinemaxX-Kino angekündigt

Neben den beiden Berlinale-Demos hat ver.di zudem bereits ab diesem Wochenende deutschlandweit Streiks in den CinemaxX-Kinos angekündigt. Das Unternehmen wolle 2019 alle 55 Kinos der CineStar-Gruppe für mindestens 130 Millionen Euro übernehmen und werde so mit 84 Kinos größter Kinobetreiber in Deutschland. In den Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft habe CinemaxX allerdings auch in der dritten Verhandlungsrunde noch immer angemessene Gehaltserhöhungen verweigert. Die angebotenen Lohnsteigerungen liegen im Cent-Bereich, die Stundenlöhne würden damit unter 10 Euro bleiben. ver.di will jedoch über Stundenlöhne im zweistelligen Bereich verhandeln und fordert einen Einstiegslohn von 10 Euro die Stunde, erklärt Reichel.

Von den angekündigten Warnstreiks betroffen sein wird auch das von der Berlinale gemietete CinemaxX-Kino am Potsdamer Platz. Nach Informationen von ver.di halte das Unternehmen dort jedoch seit Tagen Streikbrecher*innen bereit. Die Gewerkschaft geht davon aus, dass dies der Berlinale-Festspielleitung bekannt sei und geduldet werde. Zu der Aufforderung, sich solidarisch mit den Kino-Beschäftigten zu erklären und auf Streikbrecher*innen zu verzichten, schweigt die Festivalleitung bisher.

***Aktualisierung vom 11. Februar 2019***

Am Samstag, den 9. Februar haben die Kinobeschäftigten weiter demonstriert. Unterstützt wurden sie dabei unter anderem von der Jungen dju sowie von zahlreichen Teilnehmer*innen der Bundeskonferenz der Fachgruppe Medien, die nach Konferenzende vom ver.di-Haus am Ostbahnhof zum Potsdamer Platz gefahren waren.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Standard. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf den Button unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

Darüber hinaus haben wie angekündigt am Samstag bundesweit Warnstreiks in den CinemaxX-Kinos, so in Wandsbek, Harburg oder Offenbach begonnen. Die Streiks sollen fortgesetzt werden.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Standard. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf den Button unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Warnstreik bei der Süddeutschen Zeitung

Für die zweite Tarifverhandlungsrunde am 25. Juli 2024 hatten die Verhandler*innen des Zeitungsverlegerverbandes BDZV der dju in ver.di ein Angebot zu Tariferhöhungen angekündigt. Gehalten haben sie das Versprechen nicht. Konkrete Zahlen zur Tariferhöhung blieb der BDZV schuldig. Stattdessen stellte er Gegenforderungen zum Nachteil der Zeitungsredakteur*innen. Heute streikten dagegen über 100 Beschäftigte der Süddeutschen Zeitung. In Nürnberg gab es eine Aktive Mittagspause vor dem Verlag Nürnberger Presse.
mehr »

Süddeutsche ohne Süddeutschland?

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) will sich aus der Regionalberichterstattung in den Landkreisen rund um München weitgehend zurückziehen. Am Mittwoch teilte die Chefredaktion der SZ zusammen mit der Ressortleitung den rund 60 Beschäftigten in einer außerordentlichen Konferenz mit, dass die Außenbüros in den Landkreisen aufgegeben werden und die Berichterstattung stark zurückgefahren wird. Dagegen wehrt sich die Gewerkschaft ver.di.
mehr »

Breiter Protest für Rundfunkfinanzierung

Anlässlich der Konferenz der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten (MPK) in Leipzig fordert ver.di die Fortführung des Reformdiskurses über die Zukunft öffentlich-rechtlicher Medienangebote und über die Strukturen der Rundfunkanstalten. Die notwendige Debatte darf die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten jedoch nicht daran hindern, ihren vom Bundesverfassungsgericht zuletzt im Jahr 2021 klargestellten Auftrag auszuführen: Sie müssen im Konsens die verfassungsmäßige Rundfunkfinanzierung freigeben.
mehr »

Games: Welcome to Planet B

Die Bürgermeisterin muss sich entscheiden: Soll zuerst ein Frühwarnsystem vor Springfluten eingerichtet oder neue Möglichkeiten zum Schutz vor Hitze geplant werden? Und sollen diese neuen Schutzmaßnahmen besonders günstig oder lieber besonders nachhaltig sein? Was wie Realpolitik klingt ist ein Computerspiel. Denn immer mehr Games setzten sich auch mit Umweltthemen auseinander.
mehr »