Buchtipp: „Falsche Vorbilder“ im Netz

„Falsche Vorbilder“ nennt YouTuberin Alicia Joe die Influencer-Kolleg*innen, die ihren Job in erster Linie als „profitorientiertes Business“ verstehen. Wenn diese ihren zumeist jungen Followern freundschaftliche Einblicke in ihr Leben vorgaukeln, wollten sie „Kohle machen und Einstellungen verändern“. Zusammen mit der Journalistin Sabine Winkler möchte sie auch ein Publikum außerhalb der Onlinewelt darüber aufklären, „wie Influencer uns und unsere Kinder manipulieren“. 

Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel mit Hashtag-Überschriften. Im Vorwort #follow geht es um das Phänomen „Influencer“ – die Popstars von heute und den Traumberuf für die Hälfte aller 16- bis 29-Jährigen. Erfolgreich und berühmt könnten sie werden, so die beiden Autorinnen, wenn sie ihre Inhalte auf den Algorithmus von YouTube, Instagram oder TikTok abstimmen und den Nutzer*innen authentisch, glaubwürdig und unterhaltsam vermitteln. 

Je mehr Klicks und Follower bzw. Abonnent*innen Influencer haben, desto mehr Geld bekommen sie von Plattformen oder Werbepartner*innen. Der Verdienst reiche von Hungerlöhnen bis zu Jahresgewinnen in Millionenhöhe. Pocket Hazel, die im September 2021 ein Selbstexperiment startete und fast alle Werbekooperationen annahm, verdiente mit ihren Aktivitäten auf YouTube und Instagram in diesem Monat 53.200 Euro. 

Der Einfluss von Influencern auf die Zielgruppe wird medienpsychologisch mit einer „parasozialen Beziehung“ erklärt, die ihren Followern soziale Zugehörigkeit vermitteln könne, aber zuweilen auch zu herben Enttäuschungen führe – wie im Fall des Do-it-Yourself-Influencers Fynn Kliemann. Das ZDF Magazin Royale deckte im Mai auf, dass sich hinter dem selbstlosen Heimwerker und Corona-Maskenproduzenten ein durchtriebener Geschäftsmann verbarg. 

Kritisch werden zunächst Challenges, Selbstdiagnosetools und Hasskommentare in Social Media unter die Lupe genommen, um in den folgenden Kapiteln „scheinbar harmlose Inhalte“ zu thematisieren, die dennoch einen subtileren, gesamtgesellschaftlichen Einfluss haben. Dass Beauty-Blogs seit der „Ära Kardashian“ eine zweifelhafte Uniformierung der Schönheitsideale fördern und  Fitness-Influencer ohne Fachwissen vor allem am Verkauf von Produkten und Programmen interessiert sind, dürfte eher bekannt sein als die Gefahren, die von Home-Videos ausgehen. 

Familien-Blogger gefährden mit ihren Videos vom „stinknormalen Alltag“ ihre eigenen Kinder, wenn sie diese in intimen Situationen zeigen und Informationen preisgeben, warnen die Autorinnen. Ihre persönliche Entwicklung könne gestört und so manches Kinderfoto in pädophilen Foren geteilt werden. Ausführlich problematisieren sie den mangelnden Datenschutz und die Kinderarbeit, die zuweilen den Lebensunterhalt der ganzen Familie sichere. Sie geben Tipps für einen verantwortungsvollen Umgang mit Kinderbildern im Netz. Wenn Jungen und Mädchen selbst zu Influencern werden, manipulieren sie Gleichaltrige mit spaßigen Videos, in denen sie Spielzeug, Süßigkeiten, Fast Food und Softdrinks bewerben. 

In ihrem Youtube-Video zum Buch bezeichnet Alicia Joe #wanderlust als ihr Lieblingskapitel. Dort nimmt sie Travel-Blogger aufs Korn, deren schöne Landschaftsbilder die Umwelt gefährden. So trampelten Tourist*innen in Südfrankreich für das perfekte Instagrambild ganze Lavendelfelder nieder. Wie Influencer und andere Reisende ihren ökologischen Fußabdruck verbessern können, wird in einem Verhaltenskodex zusammengefasst. Weiterer Kritikpunkt: Um Steuern zu sparen, wanderten viele Travel-Blogger nach Dubai aus. Durch Unternehmensgründung in Kanada würden sie Steuern ganz vermeiden – ein Fall fürs Finanzamt, meint Alicia Joe augenzwinkernd in ihrem Video.  

Dass es auch möglich ist, sich von vielen „Aspekten der Influencer-Konsumwelt“ zu distanzieren und einem „Wertekompass“ zu folgen, zeige die Youtuberin JANAklar, schreiben die Autorinnen und freuen sich, dass aktuell immer mehr „Sinnfluencer“ die Plattformen eroberten. Etwa der Meeresbiologe Robert Marc Lehmann, der auf seinem YouTube-Kanal über Tier- und Umweltschutz aufklärt.

Als Sinnfluencerin könnte man auch Alicia Joe bezeichnen, wenn sie an ihre Kolleg*innen appelliert, Verantwortung für die Community zu übernehmen und Social-Media-Nutzer*innen auffordert, mehr politische und kritische Inhalte nachzufragen. Alicia Joe startete ihre YouTube-Karriere während ihres Studiums mit Make-up-Tutorials und präsentiert nun kritische Videos – etwa über Kinderinfluencer. Themen dieser Videos sind auch Herzstück ihres Buches. 

Für Leser*innen dieses sorgfältig lektorierten Gemeinschaftswerks gibt es einen Mehrwert. Sie müssen im Gegensatz zu den Video-Nutzer*innen keine Werbung ertragen und erhalten neben den vielen anschaulichen Beispielen fundierte Informationen zu Datenschutz, medienpsychologischen oder rechtlichen Hintergründen. Alle Quellen sind in einem 30-seitigen Endnotenverzeichnis zumeist mit Internetlinks belegt. Ein Glossar ermöglicht auch weniger Social-Media-affinen Leser*innen tiefere Einblicke in die Influencer-Welt.

Fazit: Ein wichtiges, spannendes und konstruktives Buch nicht nur für alle, die viel Zeit auf Instagram, YouTube, TikTok und Co. verbringen, sondern auch für diejenigen, die andere davor schützen wollen, im Interesse der Konsumgesellschaft manipuliert zu werden – seien es Eltern, Lehrer*innen oder Medienschaffende.  

Alicia Joe, Sabine Winkler: Falsche Vorbilder. Wie Influencer uns und unsere Kinder manipulieren. Yes-Verlag, München 2022. 288 Seiten. 19,99 Euro. ISBN: 978-3-96905-196-2 

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