Kiran Nazish ist Gründerin und Direktorin der „Coalition For Women In Journalism“ und der Initiative „Women Press Freedom“ – einer globalen Organisation mit Sitz in New York, die Verletzungen der Pressefreiheit in 132 Ländern dokumentiert. Sie war Kriegsberichterstatterin im Nahen Osten und Lateinamerika, und Journalismus-Professorin in Indien, den Vereinigten Staaten und Kanada. Mit M sprach sie über sexistische Angriffe auf Journalist*innen, SLAPPs und die Gefahr durch repressive Staaten.
M: Frau Nazish, als Journalistin waren Sie in der ganzen Welt unterwegs, jetzt beobachten Sie die Pressefreiheit in 132 Ländern. Wie äußern sich für Frauen im Journalismus die multiplen Krisen unserer Zeit – also Kriege, Klimakatastrophe, soziale Ungerechtigkeit und antidemokratische Bewegungen inklusive Hass auf Frauen und Queers sowie Antifeminismus?
Kiran Nazish: Die Auswirkungen all dieser Probleme – im Westen, im Osten, überall auf der Welt – lassen sich als wahre tektonische Verschiebungen des Politischen bezeichnen. Das nationale, ebenso wie das internationale Klima verändern sich völlig. Es wandelt sich die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, genauso wie das, was unter Demokratie verstanden wird. Bei solch gravierenden Veränderungen gehören Journalist*innen immer zu den ersten Zielen.
Woran machen Sie das fest?
Wir verzeichnen ja weltweit schon seit zwei Jahrzehnten einen Anstieg der Angriffe auf die Presse, besonders bei Berichten aus dem Krieg, von Protesten wie dem Arabischen Frühling oder Recherchen zu Drogenkartellen in Mexiko. Aber seit dem Ende der Corona-Pandemie beobachten wir etwas Neues, nämlich eine Zunahme der Angriffe auf Medienschaffende in Europa, den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und anderen Teilen der Welt, in denen wir bisher eine vernünftige Demokratie hatten.
Können Sie ein Beispiel dafür geben?
Vor Kurzem hatten wir in Kanada den Fall von Brandi Morin, einer indigenen Journalistin. Sie wurde von der Polizei festgenommen und unrechtmäßig angeklagt, nachdem sie über Polizeirazzien bei wohnungslosen Indigenen berichtete. Oder auch in Deutschland, wo etwa die Journalistin Kili Weber in Sachsen regelmäßig verbal und physisch angegriffen wird. Gerade die Zahl der Angriffe auf weibliche und nicht-binäre Journalist*innen nimmt exponentiell zu. Allein im Januar 2024 haben wir 92 Fälle von Verletzungen der Pressefreiheit dokumentiert – von Kanada bis Aserbaidschan. Im Vergleich zum Januar im Vorjahr verzeichnen wir somit einen Anstieg um 253 Prozent.
Welche Trends sehen Sie bei der Art der Angriffe?
Zu den drei wichtigsten globalen Trends, die wir für 2023 dokumentiert haben, gehören SLAPPs („strategic lawsuit against public participation“). Dabei handelt es sich im Wesentlichen um juristische Schikanen, bei denen Journalist*innen wegen ihrer Berichterstattung von Regierungen oder Unternehmen ins Visier genommen werden.
Wie läuft so ein SLAPP ab?
Schauen wir den Fall der italienisch-palästinensischen Journalistin Rula Jebreal an, die in den USA lebt und deren Familie in Italien. Seit Jahren wird sie vom italienischen Establishment fertig gemacht. Präsidentin Giorgia Meloni hat sich sogar direkt zu ihrem Fall geäußert und in Kommentaren die Unwahrheit über sie verbreitet. Rula hatte die Migrationspolitik Melonis kritisiert und über einen Fall von Belästigung berichtet. Jetzt ist sie angeklagt und fingierten Vorwürfen ausgesetzt. So soll sie von der weiteren Berichterstattung abgehalten werden. Gerichtsverfahren sollen Journalist*innen von der Berichterstattung ablenken.
Wie häufig kommt das vor?
Wir haben allein für Januar 2024 mehr als 20 Fälle dieser Rechtsverletzungen beobachtet. Das ist schon enorm. Außerdem wurden 11 Journalistinnen bedroht und eingeschüchtert, nur weil sie ihre Arbeit gemacht haben. Die meisten von ihnen stammen aus Ländern wie Russland, der Türkei, Venezuela, den USA oder Kolumbien. Dann gab es 8 Journalistinnen, die sexuelle Belästigung während der Arbeit gemeldet haben, was sehr besorgniserregend ist. Und das sind alles nur die Fälle aus einem Monat.
Worin sehen Sie den zweiten Trend?
Natürlich müssen wir darüber sprechen, dass aktuell so viele Journalist*innen in Kriegsgebieten getötet werden wie lange nicht. In Gaza ist Israel hauptverantwortlich für die Einschüchterung und Tötung von Journalist*innen. Und Russland ist hauptverantwortlich für die Ermordung von Journalistinnen in der Ukraine. Russland verfolgt Medienschaffende darüber hinaus auch im Ausland und versucht sie zu vergiften.
Was ist der dritte Trend?
Auch diesen konnte man gerade wieder in Russland sehen: Als es jetzt Protest- und Gedenkveranstaltungen für Alexej Nawalny gab, der wahrscheinlich getötet wurde, wurden viele Journalist*innen ins Visier genommen, die dorthin gingen. Das zeigt: In Regimen, in denen es Zensur gibt, gehen Regierungen oft doppelt gegen die Presse vor, also sowohl gegen diejenigen, die über die Zensur selbst berichten als auch gegen diejenigen, die über die Folgen der Zensur berichten. Dafür sind Länder wie Russland, die Türkei und der Iran besonders berüchtigt.
Gibt es auch neue Formen von Übergriffen?
Wir glauben, dass einige der russischen Raketenangriffe absichtlich auf die Presse gerichtet waren. Und der Iran führt neuerdings wohl eine DNA-Überwachung von Journalist*innen durch, die über den Iran berichten. Das sind Formen von Angriffen, die wir bisher nicht gesehen haben.
Was ist typisch an Übergriffen auf Frauen und nichtbinäre Menschen?
Gegen Rula Jeberal, die ich bereits erwähnte, haben wir eine massive Verleumdungskampagne erlebt, Einschüchterungen, denen ihre Familie in Italien ausgesetzt war, ihre Tochter, ihre Eltern, ihr Ex-Ehemann. Sie war mit Überwachung und Hetzkampagnen konfrontiert. In diesem Klima nutzen Regierungen oft nicht nur ein Mittel, sondern gleich mehrere auf einmal: Überwachung, rechtliche Drohungen, Verleumdung. Weibliche und nichtbinäre Journalist*innen sind davon besonders stark betroffen. Bei ihnen werden Hetzkampagnen häufig mit Überwachung kombiniert. So stehen noch mehr Informationen über ihr Privatleben zur Verfügung, dadurch werden die Hetzkampagnen noch schlimmer. Das verstärkt die Zensur in der gesamten Branche.
Das heißt, wie mit Frauen und nichtbinären Menschen im Journalismus umgegangen wird, betrifft auch Männer?
Korrekt. Die Behörden fühlen sich stark, wenn sie Journalist*innen zensieren. Es erhöht die Wahrscheinlichkeit, den Rest gleich mit zum Schweigen zu bringen. Die Gesamtsituation von Medienschaffenden aller Geschlechter hat sich verschlechtert, weil so viel schlechter mit Frauen und nichtbinären Menschen umgegangen wird.
Auch männliche Journalisten müssen sich mit SLAPPs herumschlagen oder können im Krieg umkommen. Auf ihr Geschlecht bezogen beleidigt und verunglimpft werden sie jedoch selten.
Genau. Ob in den USA, in Europa oder im Nahen Osten, wir beobachten immer mehr sexualisierte und geschlechtsspezifische Inhalte und Rufmord, zum Beispiel die Bezeichnung von Journalistinnen als „Huren“. Die Sprache ist oft sehr direkt und bösartig.
Die Sprache ist ein Marker für Sexismus, aber es geht um mehr als Worte, oder?
Absolut. Zum Beispiel bei einem Prozess gegen kurdische Journalist*innen in der Türkei erwähnte die Staatsanwaltschaft die Kleidung der Angeklagten und versuchte sie so in die Nähe von Prostituierten zu rücken. Die drei wurden zudem grundlos in ein Männergefängnis gebracht, nur damit so ihr Geschlecht erneut zum Thema wird. Diese absichtliche Sexualisierung passiert in hoch repressiven und diktatorischen Staaten besonders häufig.
Warum ist das über den Moment der Erniedrigung hinaus problematisch?
Weil sie eine neue Sicherheitsprobleme für Journalistinnen mit sich bringt. Diese Art von Angriffen soll das integre Bild der Reporterin zerstören und damit ihre Arbeit verunmöglichen. Und sie erhöhen das Risiko für körperliche Angriffe.
Gibt es auch Lichtblicke?
Ja, zum Glück. Bei Brandi Morin in Kanada haben wir fünf Wochen lang darauf gedrängt, dass sie aus dem Gefängnis entlassen wird, haben ihr Anwälte besorgt, an den Bürgermeister geschrieben und vieles mehr. Nun ist sie freigelassen worden. Das war eine erfolgreiche Kampagne.