Meinung
#MeToo hatte 2017 ans Tageslicht gebracht, wie viele Menschen weltweit sexualisierte Gewalt erleiden. 2018 trat auch in Deutschland die Instanbul-Konvention in Kraft, die Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt bekämpfen soll. Darin werden Medien aufgefordert, „Richtlinien und Normen der Selbstregulierung festzulegen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und die Achtung ihrer Würde zu erhöhen“. Die Deutsche Presse-Agentur ist 2019 vorgeprescht und hat verharmlosende Begriffe wie „Familientragödie“ oder „Beziehungsdrama“ aus ihrem Wortschatz verbannt.
Ein wichtiger Schritt – aber leider mit begrenzter Wirkung! Der Verein Gender Equality Media Screening entdeckte 2020 noch in 93 Prozent der 250 täglich gescannten Medien verharmlosende Begriffe wie „Familiendrama“. Nur wenige nannten Gewalt gegen Frauen beim Wort – etwa die „Schleswiger Nachrichten“, die im Falle einer ermordeten Frau von „Femizid“ schrieben. Die Ergebnisse des Medienscreenings sind in einer monatlich aktualisierten interaktiven Karte abrufbar. Im Corona-Jahr sei im Vergleich zu den Vorjahren mehr über häusliche Gewalt berichtet worden, konstatieren die Aktivistinnen.
Auch wenn die Pandemie die alltägliche Gewalt gegen Frauen stärker ins Blickfeld gerückt hat: Sie wird immer noch zu selten als gesellschaftliches, mit patriarchalen Strukturen und Normen zusammenhängendes Problem thematisiert. So kursiert weiterhin die Vorstellung, alltägliche Gewalt gegen Frauen sei „Privatsache“ und Morde seien „tragisch“ – es sei denn, sie werden von nicht-deutschen Tätern verübt. Dann könne man sich durch Abschiebungen vor „fremder Gewalt“ schützen. Doch die Wirklichkeit ist eine andere und wir Journalist*innen haben eine Verantwortung, mit geschärfter Sensibilität zu berichten, einzuordnen und Orientierung zu geben.
Wie dringlich ein Umdenken in den Redaktionen ist, zeigen Forschungsarbeiten zur Berichterstattung und ihrer Rezeption. Im Juli veröffentlichte die Otto-Brenner-Stiftung ihr Arbeitspapier „Tragische Einzelfälle? Wie Medien über Gewalt an Frauen berichten“ – eine quantitative Inhaltsanalyse der Mainzer Kommunikationsforscherin Christine Meltzer. Sie untersuchte 3.500 Artikel, die zwischen Januar 2015 und Juni 2019 in drei Boulevardblättern, vier überregionalen und fünf regionalen Tageszeitungen erschienen sind. Die Daten verglich sie mit der Kriminalstatistik und kam zu dem Schluss, dass überproportional über Tötungsdelikte (ein Prozent zu 55 Prozent) berichtet wird, obwohl Körperverletzungen (65 zu 18 Prozent) in der Realität viel häufiger vorkommen.
Während 38 Prozent der Straftaten gegen Frauen in Ehe, Partnerschaft und Familie verübt werden, machen sie nur 23 Prozent der Medienberichte aus und werden zudem als „tragische Einzelfälle“ präsentiert. Erwähnung finden Motive der Täter wie Eifersucht oder Angst vor Trennung, aber selten die Gewalterfahrungen, die Frauen zuvor erlebten – aufgrund von krankhafter Kontrollsucht und patriarchalem Besitzdenken ihrer Partner. So werden die strukturellen Ursachen der Gewalt ausgeblendet. Gerade den Opfern gebührt mehr Raum in der Berichterstattung, Medienschaffende sollten den Fall nicht aus Täter-Perspektive aufrollen.
Meltzer kritisiert, dass diese partnerschaftliche Gewalt „bei Journalist*innen immer noch als privates Thema aufgefasst wird“ und weniger Nachrichtenwert hat als die weitaus seltenere Gewalt an Frauen durch Fremde. 79 Prozent der Täter waren 2018 Deutsche. Thematische Rahmungen und daraus abgeleitete politische Forderungen gibt es bei Gewalt an Frauen zudem dreimal häufiger, wenn Täter als nicht-deutsch markiert sind – verstärkt nach der Kölner Silvesternacht. Nach der 2017 verwässerten Antidiskriminierungsrichtline des Presserats empfiehlt Meltzer Medienschaffenden eine „sorgsame Abwägung von Herkunftsnennungen“, damit Gewalt gegen Frauen nicht als „ein Thema der anderen“ wahrgenommen wird. Außerdem sollten Medien über Beratungsangebote, Hilfetelefone oder Frauenhäuser informieren, denn rund zehn Prozent der von Gewalt betroffenen Frauen wissen nicht, wo sie Hilfe finden können.
Ähnliche Schlüsse ziehen auch die Kommunikationswissenschaftlerinnen Christine Linke und Ruth Kasdorf, die in einem Projekt geschlechtsspezifische Gewalt im Deutschen Fernsehen erforschen. Darunter verstehen sie die in der Istanbul-Konvention adressierte strukturelle Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechts richtet. Sie untersuchten 2020 mittels einer qualitativen Medieninhaltsanalyse 545 Sendungen, die zwischen 18 und 22 Uhr in ZDF, Das Erste, RTL, RTL2, Vox, ProSieben, SAT1 und Kabel Eins ausgestrahlt wurden.
Nach ersten Ergebnissen macht geschlechtsspezifische Gewalt in den drei Programmsparten Fiktion, Information und Unterhaltung gut ein Drittel der Sendezeit aus. Es werden 290 unterschiedliche Gewalthandlungen gezeigt – „vor allem in Krimis“, wie Christine Linke auf M-Nachfrage erläuterte. Sie kritisierte, dass es im Gegensatz zu Streamingangeboten im Fernsehen keine Triggerwarnungen vor brutalen Szenen gegeben habe, sodass Gewaltopfer retraumatisiert werden könnten. Das passt zum Ergebnis, dass „nur in den wenigsten Fällen die Perspektive von Betroffenen und Opfern“ im Fokus stehen. Die strukturelle Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt und Möglichkeiten der Prävention und Hilfsangebote werden kaum sichtbar.
Doch es geht auch anders. Linke nennt als „Leuchtturm“ die Folge „Teufelskreis“ aus der ZDF-Serie „Lena Lorenz“, in der es um häusliche Gewalt geht und die Hebamme als Titelheldin professionelle Hilfe leistet. Die strukturelle Dimension werde thematisiert und der Weg der jungen Mutter differenziert dargestellt, lobte die Forscherin und resümiert: „Die Sensibilität für das Thema muss geschärft werden!“
Dass gängige mediale Darstellungen fatale Wirkungen haben, bestätigt die Studie „Rezeption medialer Frames in der Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen“. Im Herbst 2020 hat Diplompsychologin Mimke Lena Teichgräber in einer Online-Befragung 724 Teilnehmenden vier Varianten eines Zeitungsartikels über partnerschaftliche Gewalt vorgelegt. Den größten Einfluss auf die Einschätzung des Falls hatten danach „die Kontextinformationen zu Täter und Betroffener, sowie die Benennung des strukturellen Ausmaßes von Gewalt gegen Frauen“ – etwa durch Kriminalstatistik und Einordnung als patriarchale Gewalt. Worte wie „Familiendrama“ gingen „mit einer höheren Verantwortungszuschreibung an die Betroffene und weniger Mitgefühl für sie einher, was Victim-Blaming verstärkt“. Eine Fokussierung auf die Perspektive des Täters führe zu einem „gesteigerten Verständnis für die Tat“ und die Wahrnehmung des Verbrechens als Einzelfall.
Wie hier, so wird auch in den anderen Studien empfohlen, einen Leitfaden für sensible Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen zu entwickeln, wie es ihn in Österreich, Großbritannien oder Kanada bereits gibt. Eine gute Idee! Nach einer Analyse der deutschen Kriminalitätsberichterstattung, die von „ausländischen Banden und deutschen Einzeltätern“ geprägt ist, hatten Duisburger Diskursforscher*innen Medienschaffende zu einem Workshop eingeladen, um eine Checkliste zu entwickeln. Das war 1998. Vielleicht wäre etwas Ähnliches zur Sensibilisierung für Gewalt gegen Frauen auch ein Projekt für dju-Mitglieder, wenn sie am 25. November ihre Fenster in oranges Licht tauchen!