Buchtipp: Konstruktiv über Kriege berichten

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die Zahl der Nachrichtenvermeider*innen in Deutschland sprunghaft auf über ein Drittel des Publikums gestiegen – vor allem wegen der psychischen Belastung durch den Medienkonsum. In der ansprechend gestalteten Publikation des Bonn Institute für konstruktiven Journalismus werden die Hintergründe dieser „News Avoidance“ analysiert und Medienschaffende erhalten Praxis-Tipps, wie sie Menschen so über den Krieg informieren können, dass diese sich nicht hilflos fühlen.

Ellen Heinrichs, Gründerin und Geschäftsführerin des Bonn Institutes, hat zusammen mit Katja Ehrenberg, Pauline Tillmann und Chiara Swenson in einer qualitativen Studie erforscht, wie konstruktive Ansätze im Journalismus „einer unangemessen negativen Weltsicht und Nachrichtenvermeidung“ entgegenwirken können. Sie führten zwischen Mai und Juli 2022 Leitfaden-Interviews mit 16 Mediennutzenden und 12 Journalist*?innen.

Die Rezipient*innen wählten sie möglichst divers nach Alter, Geschlecht, Region sowie Lebensumständen aus und bezogen auch Menschen mit ein, die selbst Krieg und Flucht erlebt haben. Die meisten Befragten wünschen sich außer Berichten über das Kriegsgeschehen auch mehr Mut machende, persönliche Geschichten – etwa von Menschen, die sich für den Frieden einsetzen – und ungefilterte Einsichten in die Lebensrealität der Betroffenen. Wichtig sind den Mediennutzenden vor allem vielfältige Perspektiven und konstruktive Lösungen: „Wie können wir diesen Krieg am schnellsten beenden?“ Außerdem solle ausreichend Kontext und Hintergrundinformation vermittelt werden, etwa durch weiterführende Links. Alle wünschen sich eine leicht verständliche Sprache. Zur Verwendung von Kriegsbildern gibt es unterschiedliche Meinungen. Einige befürworten Triggerwarnungen, während andere möchten, dass die Gräuel zur Abschreckung möglichst konkret gezeigt werden.

In einem zweiten Schritt wurden Medienschaffende von ARD bis „Zeit“ befragt – unter ihnen feste und freie Journalist*innen, die entweder in deutschen Redaktionen arbeiten oder als Reporterinnen und Reporter praktische Erfahrung in der Krisen- und Kriegsberichterstattung haben. Die meisten halten eine stärker auf Perspektivenvielfalt und Lösungsorientierung ausgerichtete Kriegsberichterstattung für möglich, doch sehen Probleme bei der praktischen Umsetzung. Sie nennen den ständigen Zeitdruck, hierarchisch geprägte Redaktionskulturen oder ein tradiertes journalistisches Selbstverständnis vom „neutralen Beobachter“. Wenn sie lösungsorientiert berichten, werde ihnen Aktivismus vorgeworfen oder: es sei „zynisch“, konstruktiv über das Thema Krieg zu schreiben. Andere halten dagegen, es sei „konstruktiv“, über erfolgreiche Friedensdiplomatie, historische Vergleichsfälle und ziviles Engagement zu berichten.

Führungskräfte der Medienhäuser müssten mehr Raum und Zeit bereitstellen, um alte Berichterstattungsmuster zu reflektieren und in konstruktive Ansätze zu verändern, sind sich die meisten Befragten einig. Dafür brauche man mehr Fortbildungsangebote und Vernetzung. Dass es bereits zahlreiche Good-Practice-Beispiele für eine konstruktive Berichterstattung gibt, die den Informationsbedürfnissen der Mediennutzenden gerecht wird, zeigen die Autorinnen im Anhang mit kommentierten Beiträgen aus Print, Audio, Video und Multimedia. Sie sind allerdings nicht alle barrierefrei im Internet abrufbar.

Die Studie ist gut lesbar, übersichtlich in neun Abschnitte gegliedert, locker gestaltet mit Grafiken, Bildern, einem Quellen- und Abbildungsnachweis sowie Informationen zu den Autorinnen. Sie bietet eine gute Einführung in den konstruktiven Journalismus – am Beispiel eines brandaktuellen Themas!

Ellen Heinrichs u.a.:

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit.

Konstruktiver Journalismus in Kriegszeiten.

Studie des Bonn Institute

www.bonn-institute.org

Dezember 2022, 70 Seiten

 

Kostenloser Download

 

 

 

 

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Die Zukunft der Filmförderung

In der morgigen Plenarsitzung des Bundestages wird über die Zukunft der deutschen Filmwirtschaft entschieden, der vom Bundestagsausschuss für Kultur und Medien beschlossene Gesetzentwurf zum Filmfördergesetz (FFG) steht zur Abstimmung auf der Tagesordnung. ver.di begrüßt eine Reform der Filmförderung, denn in Zukunft müssen Filmproduktionen Tarif- und Urheber-Vergütungen verbindlich einhalten.
mehr »

Rundfunkreform mit vielen Fragezeichen

Bis zuletzt hatten die öffentlich-rechtlichen Anstalten auf ein Ende der Blockade einer Beitragserhöhung durch die Ministerpräsidenten der Länder gehofft. Die Verweigerungshaltung der Politik ließ ihnen am Ende keine Wahl: Am 19. November kündigten ARD und ZDF eine Klage beim Bundesverfassungsgericht an, um ihren Anspruch auf die von der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF) errechnete Empfehlung einer Beitragserhöhung um 58 Cent auf 18,94 Euro monatlich durchzusetzen.
mehr »

Audiodeskription: Die KI liest vor

Die Hälfte der öffentlich-rechtlichen Sender verwendet inzwischen auch synthetische oder mit Künstlicher Intelligenz (KI) generierte Stimmen, um für Fernsehformate Audiodeskriptionen zu erstellen. Das ergibt sich aus Nachfragen von M bei den neun ARD-Landesrundfunkanstalten und beim ZDF. Neben professionellen Sprecher*innen setzen der MDR, WDR, NDR, Radio Bremen und das ZDF auch auf synthetische oder KI-Stimmen für die akustische Bildbeschreibung.
mehr »

Gendergerechtigkeit per KI überprüfen

Ein Gender-Analyse-Tool der Technischen Universität München zeigt, wie Frauen medial ausgeklammert werden. Das Ziel vom  Gender Equality Tech Tool – GETT  ist es, die Sichtbarkeit von Frauen in der Berichterstattung bewusst zu fördern. Mit GETT kann über eine Kombination aus klassischen Algorithmen und Open-Source-KI-Modellen nachgeprüft werden, wie oft Frauen im Vergleich zu Männern in den Medien genannt und wie sie dargestellt werden.
mehr »