Doku über Judenhass 24 Stunden zu sehen

Screenshot aus dem Film "Auserwählt und Ausgegrenzt"/Bild.de

Eigentlich ist der Film „Verschlusssache“. Doch die 93minütige Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt – der Hass auf Juden in Europa“ ist seit heute 0 Uhr für 24 Stunden auf Bild.de zu sehen. Seit Wochen weigern sich Arte und WDR, die ihn produzieren ließen, mit zweifelhaften formalen Begründungen, den Film auszustrahlen. Ein Husarenstück?

Man kann es waghalsig von Bild nennen – gepaart mit Kalkül für gute Publicity? Die Erstausstrahlungsrechte für den Film liegen beim Auftraggeber Arte und dem redaktionell verantwortlichen WDR – nicht beim Springer-Blatt. Als Begründung für den Coup kommentiert Bild-Chefredakteur Julian Reichelt in seiner Zeitung: „Der Kampf gegen Antisemitismus ist in Deutschland ein überragendes Interesse.“ Deshalb zeige Bild den Film „24 Stunden online, redaktionell eingeordnet und eingebettet“. – Arte reagierte souverän. Man habe zur Kenntnis genommen, dass Bild die Dokumentation in eigener Verantwortung online gestellt hat. „Auch wenn diese Vorgehensweise befremdlich ist, hat Arte keinen Einwand, dass die Öffentlichkeit sich ein eigenes Urteil über den Film bilden kann“, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme.

Die bereits vom WDR abgenommene Doku war von Arte-Programmdirektor Alain Le Diberder gestoppt worden. Das zentrale Thema würde in dem Film von Joachim Schröder und Sophie Hafner „nur sehr partiell“ behandelt. Der Sender habe einen Film geliefert, der „in wesentlichen Bestandteilen nicht dem von der Programmkonferenz genehmigten Projekt entspricht“, erklärte er einmal mehr in einem Schreiben vom 7. Juni an den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster. Es seien fundamentale Änderungen vorgenommen worden, über die Arte „bewusst im Unklaren“ gelassen worden sei. Diberder wehrte sich gegen den von vielen Seiten erhobenen Vorwurf des Formalismus, vielmehr gehe es um „die editoriale Qualität und Verantwortung“, die sicher zu stellen sei.

„Höchst relevant“

Der Zentralrat der Juden hatte sich in einem Brief an die Intendanten von Arte, WDR und ZDF (ARD und ZDF sind Gesellschafter von Arte) für die Ausstrahlung des Films eingesetzt. Er könne sich nicht erklären, wie formale Gründe einer so wichtigen Dokumentation im Weg stehen könnten, wird in epd zitiert. Ein Bericht des Zweiten Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus habe nach Angaben von Schuster gezeigt, dass Antisemitismus immer noch „in den verschiedensten Milieus unserer Gesellschaft zu finden“ ist. Vor diesem Hintergrund sei die Berichterstattung über Antisemitismus „höchst relevant“, schreibt der Präsident. „Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommt hierbei mit der Erfüllung seines Bildungsauftrags eine besondere Funktion zu“, heißt es weiter. Auch Schuster verwies darauf, dass Historiker wie Michael Wolfssohn oder Götz Aly die Dokumentation „ausdrücklich gelobt“ hätten. Aly warf Arte-Programmdirektor Alain Le Diberder in der Berliner Zeitung Zensur vor. Auch der Islamismus-Experte Ahmad Mansour habe die Relevanz des Projekts hervorgehoben. Der arabische Israeli musste aus persönlichen Gründen die direkte Mitarbeit an der Produktion des Films absagen, stand den Autoren aber als Berater zur Verfügung.

Viele Medien plädierten in den letzten Wochen für die Veröffentlichung des Films. Der deutsch-französische Kulturkanal und der größte ARD-Sender seien auf eine schiefe Bahn geraten, auf der „Antisemitismus“ stehe, heißt es beispielsweise im Tagesspiegel. Auch die taz kann die Entscheidung der ARD-Verantwortlichen offenbar nicht nachvollziehen: „‚Auserwählt und ausgegrenzt‘ hat eine deutliche künstlerische Handschrift und vor allem eine deutliche Haltung, es ist ein, so altmodisch das klingen mag, gesellschaftskritischer Film. Wer ihn gesehen hat, fühlt sich bestätigt in der Vermutung, dass die formalen Argumente der Sender vorgeschoben sind. Den Hierarchen scheint die gesamte inhaltliche Ausrichtung nicht zu passen.“

Prüfen nach „journalistischen Standards“

Der WDR beharrt darauf, die Antisemitismus-Doku zumindest vorerst nicht ausstrahlen. Er wolle nochmals prüfen, denn es gebe (inzwischen? d. Red.) „handwerkliche Bedenken“, erklärte der Sender am 8. Juni in Köln: „Wir prüfen derzeit intensiv, ob die Dokumentation den journalistischen Standards und Programmgrundsätzen des WDR entspricht“, heißt es. Der Film enthalte zahlreiche Ungenauigkeiten und Tatsachenbehauptungen, bei denen „wir die Beleglage zunächst nachvollziehen müssen“.

Filmemacher Joachim Schröder wundert sich über die jetzt geäußerten Kritikpunkte an dem Film (FAZ). Diese hätten im Laufe der vergangenen Monate alle längst geklärt werden können. Der aktuelle Verweis auf mögliche Verletzungen „journalistischer Standards“ mutet zudem als Vorwand des WDR an, sich irgendwie aus der Schlinge zu ziehen, ohne den Zensur-Verdacht zu erhärten. Immerhin wurde der Film federführend von Sabine Rollberg betreut, einer Redakteurin, die seit Jahrzehnten in verantwortlichen Funktionen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeitet und sogar einmal Chefredakteurin bei Arte war.


***Update 19.06.2017: Wie der WDR am Abend des 16. Juni mitteilte, wird die Dokumentation nun doch am 21. Juni um 22:15 Uhr im Ersten zu sehen sein.

***Update 21.06.2017: Nun hat auch ARTE bekanntgegeben, die Dokumentation heute um 23:00, zeitversetzt zur Ausstrahlung im Ersten, senden zu wollen. Grund dafür sei die Entscheidung des Ersten gewesen.

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