„Migrantisch wahrgenommene Menschen“ machen nur zehn Prozent derjenigen aus, die in den Abendnachrichten zu Wort kommen – selten bei innenpolitischen Themen, kaum als Expert*innen oder Politiker*innen. Und Menschen mit einer sichtbaren Behinderung tauchen zumeist in Berichten über die Paralympics auf. Das sind Ergebnisse einer Studie der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM) zur „Diversität in deutschen Fernsehnachrichten“.
„In Wahlkampfzeiten, in denen zentrale innenpolitische Themen im Vordergrund stehen, ist es besonders wichtig, vielfältige Perspektiven abzubilden“, heißt es in der Studie. Deshalb wurden die Abendnachrichten von ARD, ZDF und RTL in der heißen Phase vom 1. August bis 30. September mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse untersucht – unter der Frage: Wer ist im Bild sichtbar und wer kommt zu Wort? In 183 Nachrichten von „Heute Journal“, „RTL Aktuell“ und „Tagesthemen“ zählte das Team 4.200 Auftritte von 2.500 Personen und notierte, ob diese etwa migrantisch wahrgenommen werden oder eine sichtbare Behinderung haben. Als „migrantisch wahrgenommen“ ordneten sie Menschen mit sichtbarem „Migrationshintergrund“ ein, also Schwarze und People of Colour, aber auch die Schweizerin, deren Akzent sich von „Standard-Deutschen“ unterscheidet.
Die Ergebnisse: Von den zehn Prozent als migrantisch wahrgenommenen Menschen erscheinen nur wenige in der Rolle von Expert*innen – und niemand, wenn es um innenpolitische Themen wie Arbeitsmarkt oder Bildung geht. In politischen Debatten sind nur 7 Prozent zu sehen, in der Wahlkampfberichterstattung 8 Prozent. Gefragt werden sie vor allem beim Thema Migration. Obwohl über 11 Prozent der Parlamentarier*innen aus Einwanderungsfamilien stammen, machen sie in den Nachrichten nur 4 Prozent der präsentierten Politiker*innen aus, wobei die Grünen mit 13 Prozent hervorstechen.
In der Auslandsberichterstattung ist der Anteil migrantisch bzw. ausländisch wahrgenommener Personen deutlich höher: Jeweils 28 Prozent bei ARD und ZDF, 23 bei RTL. In den Untersuchungszeitraum fielen etwa der Vormarsch der Taliban in Afghanistan und Waldbrände in der Türkei und Griechenland. Das wertete Ferda Ataman vom NdM-Vorstand bei der Studienvorstellung als „positiven Hinweis auf die Internationalisierung der Nachrichten“. Sie war allerdings enttäuscht, dass trotz der intensiven Berichterstattung über die „Black-Lives-Matter-Bewegung“ im vergangenen Jahr Schwarze Menschen mit nur 0,9 Prozent vertreten sind: „Das ist kein großer Fortschritt!“
Betrachtet man die Sichtbarkeit der Geschlechter, so bleiben Frauen mit 35 Prozent weiterhin unterrepräsentiert, wobei sie unter den Expert*innen nur 21 Prozent ausmachen, bei den Moderator*innen allerdings 48 Prozent. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die aktuelle Studie „Sichtbarkeit und Vielfalt: Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität“. Bei der Sichtbarkeit von Frauen gibt es keinen Unterschied zwischen als standarddeutsch oder migrantisch Wahrgenommenen.
Obwohl Menschen mit einer Behinderung 10 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachen, sind sie in den Nachrichten mit 0,7 Prozent fast unsichtbar. Judyta Smykowski vom Projekt Leidmedien.de sagte, sie kämen nur vor, „weil die Paralympics stattgefunden haben“. Sie würden nur aufgrund ihrer Behinderung thematisiert und nicht als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Als Bürger*innen dieses Landes sollte man auch sie zu allen Themen befragen, etwa wie barrierefreie Verkehrspolitik gestaltet werden kann.
Während „RTL Aktuell“ bei der Repräsentanz von Menschen mit Behinderungen vor den beiden öffentlich-rechtlichen Nachrichtenmagazinen liegt, schneiden diese – besonders die „Tagesthemen“– in den anderen Diversitätsdimensionen etwas besser ab. Ferda Atamann erinnerte daran, dass sowohl ARD und ZDF als auch Privatsender wie RTL nach dem Rundfunkstaatsvertrag zu Vielfalt im Programm verpflichtet sind und konstatierte: „Deutsche Medien machen erste Schritte in Richtung Diversity, im Programm ist davon aber noch wenig sichtbar.“
Was tun? Chiponda Chimbelu, im Team der Diversity-Experte, berichtete von Medientrainings der BBC für unterrepräsentierte Gruppen mit dem Ziel, ihre Sichtbarkeit zu erhöhen. In Deutschland sei es schwierig, so etwas mit Gebührengeldern zu finanzieren, sagte eine Mitarbeiterin des MDR, der ein solches Training für acht regionale Wissenschaftlerinnen organisiert hatte. Besser klappt es mit der Sensibilisierung der eigenen Mitarbeiter*innen. So manche Redaktion zählt nun nach der 50:50-Methode, wie Männer und Frauen im Programm vertreten sind. Das sollte ausgedehnt werden auf andere unterrepräsentierte Gruppen – etwa 30:70 bei der Erhebung von Menschen mit Einwanderungsgeschichte, sagte Ferda Ataman. Mit diesem Tool könne auch jeder Journalist und jede Journalistin die eigenen Beiträge und Arbeitsweisen kritisch unter die Lupe nehmen. Wichtig sei auch, welche Kontakte im Adressbuch notiert sind oder mit welchen Thesen und Perspektiven Themen recherchiert werden. Das bedeutet – etwa bei Verkehrspolitik – nicht nur an mehr Radwege zu denken, sondern auch zu fragen, wie Mobilität insgesamt inklusiver und barrierefreier gestaltet werden kann.