Tarifgeschichte – als spannender Roman

Tarifvereinbarung 1873. Illustration:Yannik Heller

Das, was heute unter Tarifautonomie und Flächentarifverträgen gut bekannt ist, wurde vor 150 Jahren von den deutschen Buchdruckern begründet: Im Mai 1873 erkämpften sie den ersten reichsweiten Tarif. Das denkwürdige Jubiläum wurde bereits gefeiert und es entstand ein Kurzfilm. Nun würdigt auch eine eigene Ausstellung in der Berliner MedienGalerie diesen Meilenstein in der Tarifgeschichte. 

Es sei eine „Leseausstellung“, erklärte die Initiatorin Constanze Lindemann zur Eröffnung im Haus der Buchdrucker. Auf mehr als 20 Tafeln wird die Vorgeschichte dieses Tarifvertrages nachvollzogen. Da es von der Tarifeinigung selbst und den vorangegangenen Auseinandersetzungen kaum historisches Bildmaterial gibt, sei das Gezeigte zwar textlastig. Doch lese sich alles „spannend wie ein Roman“, fand ver.di-Archivar Dr. Hartmut Simon in seiner Ansprache. Er ordnete die historischen Geschehnisse zur Gründerzeit politisch und wirtschaftlich ein und zog Parallelen bis in die Gegenwart: Der „unter großen Opfern erkämpfte Tarifvertrag der Buchdrucker war der erste seiner Art in Deutschland. Er begründete in Praxis und Ideologie das, was heute ‚Tarifautonomie‘ heißt. Alles, was wir seither an Erfahrungen und Erkenntnissen gewonnen haben, bestimmt heute unsere Tarifarbeit.“ 

Die Buchdrucker-, Schriftsetzergehilfen und Maschinenmeister hatten sich 1869 im Deutschen Buchdruckerverband zusammengeschlossen. Die Druckerei-Prinzipale ihrerseits gründeten zwei Jahre später einen Arbeitgeberverband. Lokale Lohnbewegungen in 78 Druckereistätten zeugten von zunehmenden Spannungen und sozialem Druck. Vom Druckereibesitzer-Verband kam im Sommer 1872 der Vorschlag, durch beiderseitige Delegierte die „Tarifangelegenheit gemeinschaftlich zu beraten“. Ihr Ziel: Mit einem Reichstarif sollten die lokalen Bewegungen ausgehebelt, durch ein Delegiertenprinzip zugleich der Buchdruckerverband als Verhandlungspartner übergangen werden. Dass dieses Kalkül nicht aufging und ein reichsweiter Tarif schließlich auf Augenhöhe zwischen beiden Verbänden erzielt wurde, war der Stärke, kluger Taktik und Solidarität der Buchdrucker zu verdanken. Und ihrem monatelangen Streik, auf den die Prinzipale zunächst mit reichsweiter Aussperrung geantwortet hatten.

Über historische Analogien geschmunzelt

 „Nicht der Staat, nicht die Verwaltung, nein – der Arbeiter selbst, von unten hinauf, muss unsere Verhältnisse ordnen“ ist das Motto der jetzt eröffneten Ausstellung. Sie betrachtet die Vorgeschichte der Tarifeinigung aus Sicht der Beschäftigten. Schon im Zuge der 1848er Revolution hatten die Buchdrucker einen einheitlichen Tarif gefordert und klare Ziele formuliert. Wie dringlich auskömmliche Löhne angesichts ihrer sozialen Lagen waren, dokumentiert die Schau. Denn trotz hoher fachlicher Qualifikation – die Buchdrucker galten als „Arbeiteraristokratie“, die zunehmend mit modernster Technik wie Schnellpressen umzugehen wusste – befanden sich Druckereigehilfen überwiegend in prekärer Lebenssituation: Nachtarbeit, Überstunden, schlechte hygienische Verhältnisse in den Offizin und Wohnungselend beschnitten die Lebenserwartung. In Berlin etwa, so die Statistik der Buchdruckerkrankenkasse, wurden 55,3 Prozent der Druckereigehilfen nicht einmal 40 Jahre alt. Zumindest eine auskömmliche Bezahlung und Arbeitszeitbegrenzung waren ihre dringlichsten Forderungen, für die sie energisch kämpften. Beim Leipziger “Dreigroschenstreik“ beispielsweise setzten die sächsischen Gehilfen, die mit 23 bis 25 Pfennig pro 1000 gesetzte „n“ abgespeist wurden, die in Berlin bereits gezahlten 30 Pfennig auch für sich durch. Solche und weitere Schlaglichter setzt die Ausstellung. Auch die Führungspersönlichkeiten an der Spitze der Verbände – Richard Härtel auf Gewerkschaftsseite und Dr. Eduard Brockhaus vom Arbeitgeberverband – sowie der Tarif selbst werden detaillierter betrachtet. Als „Wechsel auf die Zukunft“ sah ver.di-Vorsitzender Frank Werneke den reichsweiten Tarif von 1873 zum Jubiläum. „Auch wir haben gestaunt und manches Mal geschmunzelt, wie sehr sich Verhaltensweisen, Konflikte und Lösungswege damals vor 150 Jahren und heute ähneln“, bekannte Ausstellungsmacherin Constanze Lindemann am Eröffnungsabend. Aus dem interessierten Publikum kam die Anregung, alle Ausstellungstexte und die Rede von Hartmut Simon in einer Broschüre zusammengefasst dauerhaft zu dokumentieren.

Die Schau von ver.di Berlin-Brandenburg, Bereich Medien, Druck und Industrie, läuft bis zum 5. Oktober. 

ver.di-MedienGalerie, Dudenstraße 10, 10965 Berlin, geöffnet Die. 16 bis 19 und Do. 15 bis 18 Uhr sowie nach Vereinbarung.

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