Wie viel Öffentlichkeit verträgt die Justiz?

Werden künftig die Urteile der obersten Bundesgerichte live im Fernsehen und im Internet verkündet werden dürfen? Im Deutschen Bundestag wird derzeit ein Gesetzentwurf beraten, der diese bislang nicht erlaubte Praxis genehmigen soll. Über Sinn und Unsinn von mehr Öffentlichkeit im Gerichtssaal debattierten soeben Juristen, Politiker und Journalisten auf einer gemeinsamen Veranstaltung des Instituts für Europäisches Medienrecht (EMR)und des Deutschen EDV-Gerichtstags e.V. in Berlin.

Klaus Rennert, Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes, zieht klare Grenzen für mehr Medienpräsenz bei Prozessen der obersten Bundesgerichte. Grundsätzliche Einwände gegen die Medienöffentlichkeit der Urteilsverkündung hat er nicht. Allerdings: „Die mündliche Verhandlung selbst ist tabu. Die Öffnung der Urteilsverkündung darf nicht der Einstieg in eine Öffnung auch der Verhandlung sein.“

Rennert sieht die Pressemitteilungen des Gerichts und die Prozessbeobachter im Saale als ausreichende Öffentlichkeit an. Eine zusätzliche Berichterstattung durch Bild und Ton lehnt er ab. Denn die, so befürchtet er, würde die Justiz den Gesetzmäßigkeiten des Fernsehens unterwerfen. „Die Waffe der Justiz ist das Wort, das Argument. Ihr Mittel ist die Differenzierung, der genauere Blick.“ Das Mittel des Fernsehens demgegenüber sei das Bild. „Bilder komprimieren, suggerieren, assoziieren. Sie unterlegen eine Berichterstattung, deren Mittel die Verkürzung ist, die Verdichtung, die Schlagzeile.“

Berechtigtes Interesse oder Scheinauthentizität?

Das oft als Argument ins Feld geführte Informationsinteresse der Öffentlichkeit richte sich ohnehin regelmäßig meist auf einzelne, spektakuläre Verfahren, etwa bestimmte Strafprozesse oder Prozesse unter Beteiligung Prominenter. Die Persönlichkeitsrechte der Prozessbeteiligten und die Funktionsfähigkeit des Prozesses gingen indes vor.

Das findet auch Rechtsanwalt Gernot Lehr, Vorstandsmitglied im Studienkreis für Presserecht und im Institut für Europäisches Medienrecht. Nicht jedem Prozess liege ein öffentliches Interesse zugrunde. Gerade in Strafprozessen müssten Menschen vor den Folgen einer audiovisuellen Berichterstattung geschützt werden. Daneben gebe es aber auch sogenannte „objektive Verfahren“, etwa Prozesse, in denen Umweltskandale verhandelt würden. Also „Verfahren, die den presserechtlichen Auskunftsanspruch betreffen, die das Informationsfreiheitsgesetz oder die das Rundfunkrecht betreffen.“ Dort seien die Persönlichkeitsrechte nur ausnahmsweise berührt. Und da stelle sich schon die Frage, „inwieweit da die Medien nicht auch audiovisuell hineindürfen“.

Aber auch Lehr mahnt zu Vorsicht: Gerade die audiovisuelle Berichterstattung sei dazu geeignet, eine „Scheinauthentizität“ herzustellen. Stärker noch als bei der Wortberichterstattung gebe es viele Manipulationsmöglichkeiten, etwa durch den Einsatz von Schnitttechniken. Andererseits sei in der modernen Medienwirklichkeit manche Regel schon weitgehend aufgeweicht. In vielen Verfahren werde aus den Gerichtssälen getwittert, würden Live-Chats organisiert. Das sei zwar meist unzulässig, komme aber zuweilen schon einer Live-Begleitung von Prozessen sehr nahe.

Öffentlichkeit als Bestie bändigen?

Dass die Justizberichterstattung ihre Tücken hat, zeigte sich unlängst, am 17. Januar, als das Bundesverfassungsgericht sein NPD-Urteil verkündete. Damals meldeten Spiegel und Zeit Online, aber auch das Erste, zunächst das Verbot der NPD. Sie hatten die zu Beginn der Urteilsverkündung zitierten Anträge irrtümlich für das Urteil selbst gehalten. Für Stephan Detjen, Chefkorrespondent des Deutschlandradios und Vorstandsmitglied der Bundespressekonferenz ist dieser Fehler nicht allein den unter Zeitdruck arbeitenden Medien anzulasten. Er gehe auch auf die formal korrekte, aber missverständliche Kommunikationspraxis des Gerichts zurück.

Stefanie Otte, Staatssekretärin im niedersächsischen Justizministerium, plädierte für eine „noch gründlichere Ausbildung“ der Justizpressesprecher. Originaltöne aus Urteilsverkündungen „zumindest in den höheren Instanzen“ könnten dazu beitragen, „die wünschenswerte Transparenz von Justizprozessen zu verbessern“. Grundsätzlich ist sie jedoch dagegen, in laufenden Gerichtsverfahren „der Schnelllebigkeit der Nachrichten das Wort zu reden und sich da anzupassen“.

Die bei der Verkündung des NPD-Urteils vor Ort anwesenden Reporter waren damals übrigens nicht in die Falle des „kommunikativen Kurzschlusses“ getappt. Ein Grund mehr, über eine vorsichtige Öffnung der Gerichtssäle für die Medien nachzudenken? „Die Öffentlichkeit ist eine Bestie“, gab sich Deutschlandradio-Korrespondent Detjen skeptisch. Die sei „schwer zu kontrollieren, die ist gefährlich, die ist unheimlich, die kann zerstörerisch wirken, die kann aggressiv sein. Und wenn man sie loslässt, weiß man nicht, wohin sie läuft.“ Daher, so der Radiomann, brauche die Gesellschaft „Qualitätsmedien“. Für Detjen sind dies vor allem der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die bedrohte Spezies „der noch vorhandenen publizistisch gestalteten Zeitungen“.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Negativrekord der Pressefreiheit

Mehr Übergriffe im Umfeld von Wahlen und eine Rekordzahl von Ländern mit katastrophalen Bedingungen für Medienschaffende. Die Lage der Pressefreiheit hat sich im weltweiten Vergleich weiter deutlich verschlechtert. Dies geht aus der Rangliste der Pressefreiheit 2024 von Reporter ohne Grenzen (RSF) hervor. Der Analyse zufolge befanden sich im vergangenen Jahr 36 Länder in der schlechtesten Wertungskategorie. Das sind so viele wie seit mehr als zehn Jahren nicht.
mehr »

Medienhäuser müssen Journalisten schützen

„Die Pressefreiheit ist auch in Deutschland zunehmend bedroht”, kritisiert die Bundesvorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion (dju) in ver.di, Tina Groll, zum Internationalen Tag der Pressefreiheit. Die dju in ver.di verzeichne mit großer Sorge eine wachsende Anzahl der Angriffe, die die Gewerkschaft für Medienschaffende in einem internen Monitoring festhält.
mehr »

Beitragsanpassung unter der Inflationsrate

Seit die aktuelle Empfehlung der KEF zur Beitragsanpassung vorliegt, gibt es mehrere Ministerpräsidenten, die eine Zustimmung zu einer Erhöhung kategorisch ausschließen. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht vor drei Jahren bereits geurteilt, dass sich ein Bundesland dem Vorschlag der KEF im bislang gültigen Verfahren nicht einfach so widersetzen darf. M sprach mit dem KEF-Vorsitzenden Prof. Dr. Martin Detzel über die aktuelle Debatte um die Rundfunkfinanzierung.
mehr »

Filmtipp: Die Mutigen 56

Hin und wieder ist es gar nicht verkehrt, sich bewusst zu machen, wie gut es uns in vielerlei Hinsicht geht. Jedenfalls gemessen an anderen Zeiten. Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint, musste erst erkämpft werden, zum Beispiel die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; davon erzählt das sehenswerte Dokudrama „Die Mutigen 56 – Deutschlands längster Streik“.
mehr »