Filmtipp: Beteiligung statt (Bürger-)Frust

MDR-Dokumentarfilm über den ersten "Bürgerrat Demokratie": Übergabe des Bürgergutachtens an Wolfgang Schäuble am 15. November 2019. Foto: obs/MDR/Saxonia Entertainment

Kann mehr Bürgerbeteiligung die Demokratie beleben? Dieser Frage gehen Sabine Zimmer und Sandra Budesheim in ihrem Film „Bürger. Macht. Mehr direkte Demokratie?“ nach. Sie begleiten mit der Kamera einige der 160 Mitglieder des ersten deutschen Bürgerrats Demokratie – einem 2019 gestarteten Modellprojekt, mit dem eine neue Form der Bürgerbeteiligung in Deutschland erprobt werden sollte. Die Dokumentation läuft jetzt im MDR-Fernsehen.

Der passionierte Harley-Fahrer in den Fünfzigern beschreibt seinen Eindruck, dass die Bürger nicht mehr im Mittelpunkt des Handelns der Politik stehen und gibt gleichzeitig zu, sich noch nie dafür interessiert zu haben. Eine junge Berlinerin mit Migrationshintergrund ist verunsichert und macht sich Sorgen, weil „alles, was für mich bislang selbstverständlich war, nun von der AfD infrage gestellt wird“. Die Schützenkönigin aus Mecklenburg-Vorpommern ist beunruhigt über die weit auseinander triftenden politischen Lager der Gesellschaft, die sogar in ihrem Freundeskreis für heftigen Streit sorgen. Der Student aus Dresden, der sich als Wahlhelfer engagiert, wünscht sich, dass Politiker*innen wieder mehr auf Menschen zugehen und ihnen zuhören. Die gebürtige Tschechin aus Nürnberg bekennt sich dazu, erstmals die AfD gewählt zu haben, weil sie – wie viele andere Leute aus ihrem Umfeld – die derzeitigen Entscheidungen der Regierung für verfehlt hält. Der ehemalige Berufssoldat und ehrenamtliche Ortsbürgermeister berichtet über den schwindenden Beteiligungswillen der Dorfgemeinschaft und die immer größere Kluft zwischen „denen da oben und denen da unten“. „Eigentlich haben wir es so gut – wir sollten aber auch rebellieren“, meint die 1989 geborene junge Frau, die in ihrem Freundeskreis eine Art Aufbruchstimmung verspürt. Die so unterschiedlichen Protagonist*innen des Dokumentarfilms gehörten dem bundesweit ersten „Bürgerrat Demokratie“ an. Die zufällig ausgewählten Menschen kamen im Herbst 2019 an zwei Wochenenden in Leipzig zusammen, um über Gedanken und Ideen zur Zukunft der Demokratie in Deutschland zu diskutieren und konkrete Vorschläge für die Politik zu erarbeiten.

Vorgaben auf der Suche nach den 160 Mitgliedern für den „Bürgerrat Demokratie“ waren nur die Parameter Alter, Geschlecht, Region, Bildungsgrad und Migrationshintergrund. Alles Weitere entschied das Los. Und so trafen sich umweltbewegte Veganerin und passionierter Jäger, Erstwähler und Rentnerin, Hilfsarbeiter und Akademikerin, notorischer Nichtwähler und engagierte Ehrenamtliche, überzeugter „Biodeutscher“ und Bürgerin mit Migrationshintergrund. Und so unterschiedlich deren Motivation, Hintergrund oder Meinung zu vielen politischen Themen auch sein mag – in einer Frage waren sich alle ziemlich einig: Eine lebendige Demokratie sollte anders aussehen. Sie konstatierten, dass hierzulande wenig voran geht, die Politikverdrossenheit groß ist und neue Formen der Bürgerbeteiligung zumindest erprobt werden sollten.

Die Kamera beobachtet zurückhaltend den Prozess der Beratungen des großen Gremiums ebenso wie die persönliche Entwicklung der Protagonist*innen. Auf diese Weise zeigt der Film nicht nur, dass politische Veränderungen für „den kleinen Bürger“ möglich sind und Beteiligungsmöglichkeiten gespaltene Lager zusammenführen können – er transportiert auch die Botschaft, dass Mitbestimmung in den Menschen selbst etwas bewegt. Dabei kommt der Film ohne Kommentare aus und verlässt sich auf die Aussagekraft der zentralen Personen.

Im Juni 2020 beschloss der Ältestenrat des Bundestages eine neue Form der Bürgerbeteiligung in Deutschland: einen zweiten Bürgerrat unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Er soll bereits Anfang 2021 dem Deutschen Bundestag sein Bürgergutachten zur Rolle Deutschlands in der Welt vorlegen.


Der Film „Bürger. Macht. Mehr direkte Demokratie?“ läuft am am 25. Oktober, 22.50 Uhr im MDR-Fernsehen. Die Dokumentation bildet den Auftakt des MDR-TV-Begleitprogramms zum 63. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm DOK, das am 26. Oktober beginnt. Im MDR-Fernsehen laufen im DOK-Begleitprogramm insgesamt sechs Dokumentarfilme, die alle ab Freitag, 23. Oktober, in der ARD Mediathek abrufbar sind.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Quartalsbericht zur Branche liegt vor

Einen detaillierten Blick auf das Geschehen in der Medienbranche wirft der jetzt wieder vorliegende Quartalsbericht. Er speist sich aus den Auswertung von Internetseiten, Zeitungen, Fachzeitschriften, Informationsdiensten, Verbands- und Unternehmenspublikationen. Ein Merkmal des ersten Monate dieses Jahres: Viele Übernahmen und eine Werbekonjunktur. 
mehr »

Buchtipp: Sprache des Kapitalismus

Über gendersensible Sprache läuft schon seit Jahren eine hochemotionale Debatte. In Bayerns Schulen, Hochschulen und Behörden gilt seit dem 1. April sogar ein Genderverbot. Über Begrifflichkeiten wie „steigende Preise“ oder Finanzkrisen, die wie ein „Tsunami“ über uns kommen, wird dagegen weniger gestritten. Sie beherrschen längst unser Denken und Sprechen, sind in unseren Alltag eingedrungen. Wer in diesem Wirtschaftssystem sozialisiert wurde, nutzt sie automatisch, ohne weiter darüber nachzudenken.
mehr »

Von Erbsensuppe und neuen Geschichten

„Vielfalt schützen, Freiheit sichern – 40 Jahre duale Medienordnung im föderalen Deutschland“. Dies war das Thema des Symposiums, das am 23.  April in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattfand. Ausrichter war die Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM).  Teilnehmer waren Verantwortliche aus Medienpolitik und -wissenschaft, Rundfunkregulierung und Medienunternehmen.
mehr »

Preis für behinderte Medienschaffende

Zum zweiten Mal schreibt in diesem Jahr die gewerkschaftsnahe Otto Brenner Stiftung zwei Preise und Stipendien für Journalist*innen mit Behinderung aus. Damit soll „ein klares Signal für die Förderung von Diversität als unverzichtbaren Wert in unserer demokratischen Gesellschaft“ gesetzt werden, sagt Jupp Legrand, Geschäftsführer der Stiftung. 
mehr »