Medien im Exil: Von Moskau nach Riga

Artyom Radygin wurde als Reporter in Russland verhaftet, mittlerweile lebt und arbeitet er in Lettland. Foto: Sarah Schaefer

Mehr als 30 Jahre lang hatte Radio Free Europe/Radio Liberty ein Büro in Moskau. Der US-Auslandssender kam 1991 auf Einladung des damaligen Präsidenten Boris Jelzin nach Russland. Doch spätestens mit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist die Arbeit der Journalist*innen dort unmöglich geworden. Vor einem Jahr ist die Redaktion nach Lettland umgezogen. Nun berichtet sie aus dem Exil und ist überzeugt: Vor allem in unsicheren Zeiten hat sie die Aufmerksamkeit der Menschen in Russland. Ein Besuch in Riga.

Artyom Radygin war Student in Moskau, als er begann, für Radio Svoboda zu arbeiten, den russischsprachigen Dienst von Radio Free Europe/Radio Liberty. Er berichtete über Straßenproteste und politische Aktivist*innen – sehr zum Missfallen der russischen Behörden. Am 24. Februar 2022 wurde Radygin zusammen mit zwei Kollegen verhaftet, als sie in der Moskauer Innenstadt über Demonstrationen gegen Russlands Überfall auf die Ukraine berichteten.

Die Journalisten kamen zwar nach mehreren Stunden frei, aber für Radygin wurde die Lage so bedrohlich, dass er Russland verlassen musste. Noch im März 2022 reiste er nach Lettland. Er war der erste aus seiner Redaktion, der in den baltischen EU-Staat übersiedelte, seine Kolleg*innen folgten.

Die Moskauer Redaktion von RFE/RL gehört zu den vielen unabhängigen Medien aus Russland, die im Baltikum Zuflucht gefunden haben. Die RFE/RL-Journalist*innen, die über Belarus berichten, tun das mittlerweile von der litauischen Hauptstadt Vilnius aus. Vor einem Jahr wurde das Büro in Riga feierlich eröffnet, auch der damalige lettische Präsident Egils Levits war dabei.

Russland macht Druck auf Journalist*innen

Bereits 2017 hatte das russische Justizministerium RFE/RL gemeinsam mit weiteren US-Auslandsmedien zu „ausländischen Agenten“ erklärt, was die Arbeit vor Ort erheblich erschwerte. 2019 verlegte der Sender sein Moskauer Büro nach Kyiv. Nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine 2022 war RFE/RL gezwungen, den Redaktionssitz in Moskau endgültig zu schließen.

„Es wurde unmöglich, dort zu arbeiten“, sagt Elmars Svekis, der das Büro in Riga leitet. Die örtlichen Steuerbehörden hatten Anfang März 2022 ein Konkursverfahren gegen die RFE/RL-Niederlassung eingeleitet. Präsident Wladimir Putin hatte außerdem ein Gesetz unterzeichnet, das lange Haftstrafen für Journalist*innen vorsieht, die in Bezug auf die Ukraine von der offiziellen Kreml-Position abweichen.

Radio Svoboda auf dem Smartphone: RFE/RL muss Wege finden, sein Publikum trotz Zensur zu erreichen. Foto: Sarah Schaefer

Vom Rande der Rigaer Altstadt aus macht nun ein Team von mehr als 70 Mitarbeiter*innen Nachrichten für ein russischsprachiges Publikum. Die Journalist*innen arbeiten für Radio Svoboda oder Current Time – Online-Plattform und Rund-um-die-Uhr-Nachrichtensender in einem. Beiträge über den Verlauf des russischen Kriegs gegen die Ukraine und die russische Politik dominieren die Inhalte von Radio Svoboda und Current Time. Sie handeln von der psychologischen Versorgung der Soldat*innen in der Ukraine, der Situation von Kindern, die nahe der Front leben oder von der jährlichen Neujahrsansprache Putins.

Ausführliche Recherchen gibt es auch zu gesellschaftlichen Themen, etwa zu traumatischen Geburtserfahrungen in Russland und zur Situation von Geflüchteten weltweit. Neu dazugekommen ist der baltische Ableger: Current Time Baltics richtet sich an die russischsprachige Bevölkerung in den baltischen Staaten und Europa. Denn auch innerhalb Europas wird russisches Staatsfernsehen geschaut. RFE/RL will dazu eine Alternative bieten.

„Das Publikum in Russland wendet sich uns zu, weil es dem Kreml misstraut“

„Unsere Mission ist es nicht, gegen Desinformation anzukämpfen“, sagt Büroleiter Elmars Svekis. Es gehe nicht darum, sich an Verlautbarungen aus dem Kreml abzuarbeiten. Aufgabe der Journalist*innen sei es, das Publikum mit gut recherchierten, objektiven und unzensierten Nachrichten zu versorgen.

Das Konzept heißt Qualitätsjournalismus auch im Exil

Dass sie damit zahlreiche Menschen in Russland erreichen, daran haben sie bei RFE/RL keinen Zweifel. „Das Publikum in Russland wendet sich uns zu, weil es dem Kreml misstraut“, sagt Svekis. Es sei vor allem in unsicheren Zeiten deutlich zu erkennen: Wann immer etwas Außergewöhnliches in Russland geschehe – der Überfall auf die Ukraine, die Mobilmachung, der Aufstand der Wagner-Gruppe – steige die Zahl der Zuschauer*innen deutlich. Das gelte vor allem für die Sozialen Medien.

Wer in Russland Sendungen wie Current Time sehen möchte, kann nicht einfach den Fernseher einschalten. Ihr Publikum erreichen die Journalist*innen von RFE/RL vor allem über Soziale Medien wie Youtube, Facebook und Telegram. Beispiel Facebook: 2021 wurden die Current-Time-Videos auf der Plattform nach eigenen Angaben über 400 Millionen Mal angesehen. Im Zeitraum zwischen Februar und Juni 2022 – also nach dem Angriff auf die Ukraine – stieg die Zahl auf 930 Millionen.

Technische Lösungen gegen zunehmende Zensur

Soziale Medien werden in Russland oft blockiert, ebenso wie Webseiten unabhängiger Medien. Um dennoch Zugang zu den Inhalten zu erhalten, nutzt man in Russland in der Regel Verbindungen über virtuelle private Netzwerke (VPN). Allerdings gehen die russischen Behörden mittlerweile auch gegen VPN vor. In Riga sucht man nach neuen Wegen, damit die Redaktionen trotz wachsender Zensur ihr Publikum erreichen können.

Pressefreiheit

Seit dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 existiert, laut Reporter ohne Grenzen, in Russland praktisch keine Medienfreiheit mehr. Das Land belegt Platz 164 von 180 in der Rangliste der Pressefreiheit.

Das lineare Fernsehen habe in Russland zwar noch immer eine große Bedeutung, sagt Radygin. Doch es gelte als Stimme der Autorität. Den Menschen sei bewusst, dass die TV-Kanäle entweder dem Staat gehören oder mit ihm verbunden sind. „Sie wissen, welche Narrative sie zu erwarten haben, und sie sind es leid“, sagt er.

RFE/RL blickt aber nicht nur kritisch auf Russland und andere Länder, in denen die Meinungs- und Pressefreiheit massiv eingeschränkt sind. „Wir zeigen den Menschen, wie es ist, hier zu leben“, sagt Elmars Svekis. „Wir machen keine Propaganda. Wir zeigen auch die Probleme hier, in Ländern innerhalb der EU und der Nato. So wollen wir unser Publikum erreichen.“

Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch RFE/RL galt früher als Organ prowestlicher Propaganda im Kampf gegen den Kommunismus. Bis zu Beginn der 70er-Jahre wurde der Sender von der CIA finanziert. Heute betont RFE/RL daher besonders seine redaktionelle Unabhängigkeit.

Die Gelder werden vom US-Kongress über einen Zuschuss bereitgestellt, der von der United States Agency for Global Media verwaltet wird und – darauf legt man bei RFE/RL großen Wert – nicht an eine Partei gebunden ist. Aufgrund einer gesetzlichen Regelung sei die Arbeit der Redaktionen vor staatlichen Eingriffen geschützt, heißt es vom Sender.

Journalistin Alsu Kurmasheva in Haft

Wie gefährlich es für RFE/RL-Journalist*innen in Russland ist, das zeigt aktuell der Fall von Alsu Kurmasheva, die seit Oktober in Russland in Haft ist. Seit vielen Jahren berichtet Kurmasheva für RFE/RL über die russischen Teilrepubliken Tatarstan und Baschkortostan, sie besitzt die russische und die US-Staatsbürgerschaft. Aus familiären Gründen war sie von ihrem Wohnort Prag nach Russland gereist und wurde in Kasan festgenommen. Die russischen Behörden werfen ihr unter anderem vor „falsche“ Nachrichten über Russlands Armee verbreitet zu haben. Ihr drohen bis zu 15 Jahre Haft.

Auch für Radygin wäre es brandgefährlich, zurück in sein Heimatland zu gehen. Die russischen Behörden ermitteln gegen ihn. Er kann seine Familie nicht sehen, er kann sein Abschlusszeugnis nicht aus der Uni abholen. Er bereut es trotzdem nicht, diesen Weg eingeschlagen zu haben. In Russland, sagt er, habe er ohnehin keine Perspektive für sich gesehen.


20.02.2024 Update: Moskau verbietet der US-Sendergruppe Radio Free Europe/Radio Liberty , in Russland weiter zu senden. In einem Dokument in der Datenbank des russischen Justizministeriums, das die Nachrichtenagentur AFP einsah, werden die Aktivitäten des Mediums für „unerwünscht“ erklärt. Mit dem Verbot droht auch den Mitarbeitern der Sendergruppe juristische Verfolgung in Russland.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Gemeinsame Standards für Medienfreiheit

In Brüssel wird der European Media Freedom Act (EMFA) bereits als "Beginn einer neuen Ära" zelebriert. Ziel der Verordnung ist es, die Unabhängigkeit und Vielfalt journalistischer Medien in der EU in vielfacher Hinsicht zu stärken. Doch wie er von den Mitgliedsstaaten  - vor allem dort, wo etwa die Pressefreiheit gefährdet ist wie Ungarn und der Slowakei - umgesetzt wird, zeigt sich erst im kommenden Sommer.
mehr »

Eine Stimme für afghanische Mädchen

Die iranische Filmemacherin Sarvnaz Alambeigi begleitet in ihrem Dokumentarfilm „Maydegol“ über viele Jahre eine junge Muay-Thai-Boxerin aus Afghanistan, die im Iran unter schwierigen Umständen für ein selbstbestimmtes Leben kämpft. Im Interview erzählt Alambeigi, welche Rolle das Kopftuch für den Film spielt, was sie von der jungen Generation gelernt hat und warum der Film endet, bevor Maydegol endlich gelingt, was sie sich wünscht.
mehr »

Nicaraguas bedrohte Medien

Die Diktatur des nicaraguanischen Präsidentenpaars Daniel Ortega und Rocio Murillo hat in den letzten Jahren immer mehr Journalist*innen ins Exil getrieben. Unter erschwerten Bedingungen berichten Menschen wie Lucía Pineda vom Nachrichtenkanal "100% Noticias" oder Wendy Quintero nun aus dem Ausland. Für diese Arbeit nehmen sie stellvertretend für viele andere am 26. November 2024 den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung entgegen.
mehr »

Österreich: Gefahr für die Pressefreiheit

In Österreich ist die extrem rechte FPÖ bei den Nationalratswahlen stärkste Kraft geworden. Noch ist keine zukünftige Koalition etabliert. Luis Paulitsch erklärt im Interview, welche Entwicklungen in der österreichischen Medienlandschaft zu erwarten sind, sollten die FPÖ und ihr Spitzenkandidat Herbert Kickl an der Regierung beteiligt werden. Paulitsch ist Jurist, Zeithistoriker und Medienethiker. Von 2019 bis 2024 war er Referent des Österreichischen Presserats, dem Selbstkontrollorgan der österreichischen Printmedien;  seit 2024 bei der Datum Stiftung für Journalismus und Demokratie.
mehr »