Ruf nach europäischer digitaler Plattform

Grafik: NDR

Die digitale Öffentlichkeit wird weitgehend von kommerziellen Plattformen wie Google, YouTube oder Netflix dominiert. Doch allmählich formieren sich die Protagonisten eines alternativen digitalen Netzwerks für Europa. Über „Idee und Wirklichkeit einer europäischen Medienplattform“ diskutierten Medienwissenschaftler und -macher*innen am 31. Oktober im Rahmen der DGB-Veranstaltungsreihe „Gesellschaftspolitik aktuell“ in Berlin.

Der noch bis Jahresende amtierende ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm hatte vor zwei Jahren die Debatte angestoßen. Ihm schwebt eine Art europäisches YouTube vor, das den US-Internetriesen Paroli bieten und der profitorientierten Plünderung von Content Einhalt gebieten könnte. Seitdem habe sich in dieser Sache leider nicht allzu bewegt, räumte Patricia Schlesinger, Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) ein. „Wir brauchen eine Plattform, die dem Gemeinwohl dient, die nichtkommerziell ist, die nicht politisch finanziert und ausgerichtet ist, die möglichst werbefrei ist, wenn auch nicht zwingend in allen Teilen“, sagte Schlesinger. Dieses Projekt stoße derzeit jedoch noch an „gesetzliche, politische und institutionelle Hürden“. Dabei sei eine solche Plattform angesichts der Änderung der Mediennutzungsgewohnheiten überfällig. Derzeit verteile sich die Mediennutzung der Menschen zu jeweils einem Drittel auf Online, Fernsehen und Hörfunk. Bei den unter 50-Jährigen mache Online aber schon 80 Prozent der gesamten Mediennutzung aus.

Öffentlich-Rechtliche als Rückgrat europäischer Meinungsbildung

Der Kontakt dieser Gruppe mit öffentlich-rechtlichen Inhalten werde immer dünner. Entsprechend seinem Programmauftrag unterhalte der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein kostspieliges Auslandskorrespondentennetz, betreibe Regionalstudios, die sich für kommerzielle Anbieter nicht rechneten. Mehr denn je biete es sich an, diese Programmleistungen mit denen von Privatsendern, von Bibliotheken, von wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen zu bündeln „Das wäre etwas, was die europäischen Werte zusammenhalten und zugänglich machen könnte.“ In Zeiten populistischer Wahlerfolge sei es „wichtiger denn je, das Angebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu haben, als Teil des Rückgrats dieser Demokratie“.

Barbara Thomaß, Medienwissenschaftlerin an der Ruhr-Uni-Bochum und Mitglied des ZDF-Verwaltungsrates, war vor einem Jahr eine der Erstunterzeichner*innen der „Zehn Thesen zur Zukunft öffentlich-rechtlicher Medien“. Darin wird unter anderem ein stärkerer Beitrag öffentlich-rechtlicher Anbieter zur europäischen Meinungsbildung gefordert. Sie ist Mitinitiatorin des Projekts „European Public Open Space“ (EPOS), europäische Kommunikationsräume, die „frei sind von staatlichen und wirtschaftlichen Einflüssen“. Zu den vier konstitutiven Elementen von EPOS rechnet sie die öffentlich-rechtlichen Medien, Wissensinstitutionen wie die virtuelle Bibliothek Europeana, zivilgesellschaftliche Einrichtungen wie Wikipedia sowie die Bürger*innen selbst. Als europaweite Plattform solle EPOS über ein gemeinsames Wertesystem verfügen. Thomaß nannte Demokratierelevanz, Nichtkommerzialität, Datensicherheit, Nutzerkompetenz, Vernetzungsoffenheit und inhaltliche Vielfalt.

Plattform, Suchmaschine oder Empfehlungssystem?

Volker Grasmuck, Mediensoziologe und Vorstandsmitglied der Digitalen Gesellschaft, berichtete über verschiedene internationale Initiativen für eine europäische Öffentlichkeit. Als Beispiele nannte er das beim österreichischen Rundfunk ORF und der Uni Wien angesiedelte Public Value Centre, die besonders in Mitteleuropa gut vernetzten Freien Radios sowie  ein um den niederländischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk gruppiertes Netzwerk. Es gehe weniger um die Idee, den dominanten US-Plattformen jetzt eine große dominante europäische Plattform entgegenzusetzen. „Die Vorstellung, dass eine europäische Initiative YouTube oder Facebook ersetzen könne, führt in die Irre“, meinte Grasmuck. Vielmehr handle es sich darum, die Vielfalt der europäischen Sprachen und Medienproduktionen zusammenzuführen und zu vernetzen.  Nicht in Form einer neuen Plattform, sondern mit Hilfe von „Empfehlungssystemen, die nicht auf Werbeoptimierung und maximaler Verweildauer der Nutzer bis hin zum Optimierungsziel des Süchtigmachens“ basierten.

Cornelia Berger, Leiterin des ver.di-Bereichs Medien und Publizistik, verwies auf die vor Jahren propagierte deutsch-französische Initiative zur Schaffung einer europäischen Suchmaschine als Alternative zu Google. Diese sei aber offenbar „nicht aus dem Knick gekommen“.  Sie lobte das unlängst von der Bundesregierung angestoßene Projekt „Gaia X“. „Wenn es möglich sein sollte, ein europäisches Cloud-System auf die Beine zustellen und sich von der kapitalgeleiteten digitalen US-Infrastruktur zu emanzipieren“, gab sie zu bedenken, warum solle dann Vergleichbares „nicht auch im demokratiesensiblen Bereich der digitalen Öffentlichkeit“ möglich sein?

Berger berichtete auch über den Besuch von 400 Gewerkschafter*innen aus allen ver.di-Fachbereichen beim Norddeutschen Rundfunk (NDR). Solche Aktivitäten dienten dazu, bei der gewerkschaftlichen Basis die „Begeisterung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Rückgrat eines funktionierenden Mediensystems“ zu wecken. Dabei konnte die „authentische Erfahrung“ mitgenommen werden, dass den Redaktionen keineswegs „von oben die Nachrichten diktiert“ würden, sondern dass „nach klaren professionellen journalistischen Standards gearbeitet“ werde.

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