Eifriges Gezwitscher

Foto: Reuters/Kacper Pempel

Seit elf Jahren wird getwittert und noch keine schwarzen Zahlen

Twitter verbrennt jährlich viel Geld. Mehr als 2,3 Milliarden Euro an Verlusten hat der Kurznachrichtendienst angehäuft. Mit vielen Entlassungen konnten Verluste bisher nur begrenzt werden. Nun will der Konzern einen Live-Video-Dienst aufbauen und auch über Bezahl-Funktionen nachdenken. Nutzer_innen fürchten, ihr soziales Netzwerk könne unter die Räder kommen. Auf der Aktionärsversammlung am 22. Mai wird auch über Genossenschaftspläne debattiert.

Vor gut elf Jahren wurde Twitter als „Twttr“ ins Leben gerufen. Im März 2006 setzte der Softwareentwickler und Twitter-Erfinder Jack Dorsey seine erste Kurznachricht ab. Der Microblog breitete sich dann aber vor allem mit den Smartphones ab 2010 massiv aus und gewann zunehmend an Beliebtheit und Bedeutung.  Die App des US-Konzerns aus dem kalifornischen San Francisco ist heute für viele Menschen nicht mehr vom Smartphone, Tablett oder Laptop wegzudenken.

Mit kurzen Meldungen – die höchsten 140 Zeichen umfassen dürfen – beglückt nun auch Papst Franziskus seine Gläubigen. Der neue US-Präsident Donald Trump ist ein wahrer Twitter-Fan. Er zwitschert täglich für seine Anhänger und informiert als „realDonaldTrump“  über neue Vorhaben. Ungefiltert und direkt erreicht er zahllose Menschen weltweit. Trump wirft vielen Medien vor, „Fake- News“ über ihn zu verbreiten. Genau dafür, wie oft nachgewiesen wurde, benutzt er aber auch selbst Twitter. Längst wird in den USA deshalb diskutiert, ob Twitter den Trump-Account sperren sollte, da er ihn nutze, um Menschen zu beleidigen und zu diffamieren. Da bei Twitter in der Kürze die Würze liegen soll, ist die Plattform dafür besonders anfällig. Denn Differenzierungen sind bei derart kurzen Meldungen kaum möglich. Twitter wird insgesamt vorgeworfen, seine Regeln für die Nutzung zu inkonsequent anzuwenden, um Verunglimpfungen, Beleidigungen, Hass, Rassismus und Antisemitismus zu verhindern.

Praktisch alle Politiker_innen sind längst in dem sozialen Netzwerk  unterwegs. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat seit Juni 2014 einen Account. Anders als Trump nutzt sie ihn eher wenig. Merkel setzt ihr Konto vor allem für „retweets“ ein. Sie verbreitet meist Tweets von anderen Nutzer_innen weiter, von denen die Kanzlerin der Ansicht ist, dass ihre „Follower“ sie lesen sollten. Es sind oft Beiträge des Regierungssprechers Steffen Seibert, der CDU oder anderer Parteikolleg_innen.

Aktienkurs deutlich bergauf

Bekannt ist, das Twitter vor allem ökonomisch in immer schwereres Gewässer gerät. Nun meint der Microblog allerdings, wieder Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Im ersten Quartal 2017 hat sich die Zahl der Nutzer_innen stärker als erwartet erhöht. Seit der Veröffentlichung der Quartalszahlen geht es auch mit dem Kurs der Twitter-Aktie erstmals wieder deutlich bergauf. Denn im vergangenen Jahr hatte man die Zahl der aktiven Nutzer_innen weltweit nur noch schwach steigern können. In den USA stagnierte sie sogar im zweiten Halbjahr trotz des Twitter-Wahlkampfs von Trump. Im ersten Quartal 2017 kamen nun aber auch in den USA wieder drei Millionen Nutzer_innen hinzu und weltweit stieg die Zahl von 319 sogar um sechs Prozent auf 328 Millionen.

Allein mit dem Trump-Werbeschub kann man das nicht erklären – dafür sind verschiedene Faktoren verantwortlich. Dazu gehört, dass Twitter die Schwelle von 140 Zeichen aufgeweicht hat. Seit vergangenem Herbst werden angehängte Fotos und Videos und zitierte Tweets nicht mehr auf die Gesamtlänge des eigenen Beitrags angerechnet. Sie verkürzen also nicht mehr die ohnehin sehr knappe Zeichenzahl der Mitteilungen. Damit kam der US-Konzern im Silicon Valley einer Kritik von Nutzer_innen teilweise entgegen.

Keine Steigerung des Umsatzes

Twitter muss handeln, denn die Konkurrenten können mit ganz anderen Zuwächsen aufwarten. Instagram, über das Fotos geteilt werden, hat im gleichen Zeitraum einen Zuwachs von 100 Millionen verzeichnet. Der Dienst vom großen Konkurrenten Facebook hat nun 700 Millionen aktive Nutzer_innen. Aber ein Nutzerzuwachs bedeutet ohnehin nicht, dass auch Gewinn gemacht wird, wie Twitter immer wieder belegt. Deshalb waren die Quartalszahlen erschreckend, da trotz des Zuwachses nicht einmal der Umsatz gesteigert werden konnte. Er sank erstmals seit dem Börsengang 2013 wieder und ging um fast acht Prozent auf nun 548 Millionen US-Dollar in die Knie. Da der Kampf um den Werbekuchen immer heftiger wird, brachen die Werbeeinnahmen weltweit, die bei Twitter den Großteil der Einnahmen ausmachen, um elf Prozent auf 474 Millionen Dollar ein. In der amerikanischen Heimat betrug das Minus sogar 17 Prozent.

Etwas positiver ist, dass sich der Nettoverlust auf knapp 61,6 Millionen Dollar von 79,7 Millionen im Vorjahr verringert hat. Twitter bleibt eine Maschine zum Geldverbrennen, denn in keinem Geschäftsjahr wurde auch nur ein Dollar verdient. Die Verluste lassen sich schon auf mehr als 2,3 Milliarden Dollar beziffern. Dass sie eingeschränkt werden konnten, hat damit zu tun, dass massiv Personal entlassen wurde. Im vergangenen Oktober war angekündigt worden, dass weltweit erneut 350 Mitarbeiter entlassen würden. Das waren fast neun Prozent der noch verbliebenen 3900 Stellen.  Auch das Berliner Büro wurde geschlossen, mindestens 20 Mitarbeiter wurden gekündigt und die Aktivitäten in Deutschland allein in Hamburg konzentriert.

Flucht nach vorn mit Video-Diensten

Nun will der Twitter‑Mitbegründer Jack Dorsey, der seit 2015 als Interims‑Chef den Konzern leitet, den Konzern endlich rentabel machen. Dass das aber mit Stellenabbau allein nicht gelingt, war schon zuvor klar geworden. Nachdem er den Chefsessel bestiegen hatte, waren 2015 schon einmal fast acht Prozent aller Stellen gestrichen worden. Die neuen Kündigungen, zu denen sich auch die Schließung der erst 2012 zugekauften Kurzvideo‑App „Vine“ gesellt, gehören nun zu einem größeren Umbauplan.

Twitter tritt die Flucht nach vorn an und setzt verstärkt auf Video-Dienste. Man will den Live-Video-Bereich massiv ausbauen. Finanzchef Anthony Noto kündigte an, dass Twitter „definitiv“ in Zukunft 24 Stunden täglich an 365 Tagen im Jahr Videos anbieten werde und sprach von „einer einzigartigen und machtvollen Kombination“ mit aktuellen Informationen. Das Ziel sei, stets ein Ort für die zu werden, die wissen wollen, was gerade passiere, erklärte er gegenüber Buzzfeed-News. Es sollen die „wichtigsten Nachrichten“ für die „intelligente Nutzergemeinde weltweit“ zur Verfügung gestellt werden, hieß es aus dem Medienkonzern Bloomberg, der mit Buzzfeed, Vox Media und anderen schon als Partner gewonnen werden konnte.

Man hofft auf lukrative Werbespots, die beim Live-Streaming nicht übersprungen werden können. Schon wurde eine „Lite-Version“ für Gegenden entwickelt, in denen es nur langsame und unzuverlässige Datenverbindungen gibt. Beobachter meinen in diesem Vorgehen und am Ausbau des Video-Bereichs  zu sehen, dass Dorsey Strategien von Facebook zu kopieren versucht. Ob das klappt, wird bezweifelt. Ohnehin hat Twitter gerade die bedeutsamen Streaming-Rechte für die National National Football League (NLF) verloren.

Im renommierten „New Yorker“ fragt Om Malik: „Was ist falsch an Twitters Live-Video Strategie?“ Der Technik- und Internetexperte befürchtet, dass darüber bei dem textbasierten Dienst eher Nutzer_innen vertrieben werden. Für ihn sei unverständlich, warum Vine eingestellt wurde, weshalb er Twitter „Unfähigkeit“ vorwerfe. Wie Instagram sei Vine ein „Kulturphänomen“ geworden. Diese Position habe man nicht genutzt, um Vine zu einer Plattform auch zum Tausch von Fotos und anderer künstlerischen Ausdrücke umzubauen. Er erinnert auch an die verpassten Chancen des Messanger-Dienstes. Der sei weitgehend ignoriert worden, während andere Plattformen wie WhatsApp (ebenfalls von Facebook übernommen) zum Massenphänomen wurden.

Nachdenken über Premium-Version

Auf der Suche nach Einnahmequellen wird beim 140‑Zeichen‑Dienst auch über eine „Premium“-Version nachgedacht, für die Nutzer_innen zur Kasse gebeten werden sollen. Das hatte „The Verge“  schon Ende März berichtet. Gegenüber Buzzfeed bestätigte Twitter diese Informationen. Man denke über  eine Version mit Zusatzfunktionen nach. Bisher ist nur bekannt, dass Marken und Medien – sogenannte Heavy User – für die Zusatzdienste bezahlen sollen. Man versuche nun herauszufinden, an welchen Tools die Profis interessiert seien. Die Abo-Kunden sollen unter anderem „Benachrichtigungen bei aktuellen News sowie neue Werkzeuge zum Erstellen ihrer Tweets und zur Analyse ihres Erfolgs bekommen“, hatte Twitter mitgeteilt. Auf viel Gegenliebe stößt der Vorstoß bei den Nutzer_innen jedenfalls nicht. 90 Prozent seien keinesfalls bereit, für Twitter-Dienste zu bezahlen, ergab eine Buzzfeed-Umfrage.

Immer stärker fürchten Twitter-Nutzer_innen um das Überleben der Firma, denn ein überzeugendes Geschäftsmodell ist nicht in Sicht. Zunächst wurde unter dem Hashtag #wearetwitter eine Diskussion darüber gestartet, das soziale Netzwerk in eine von den Nutzer_innen kontrollierte Genossenschaft zu verwandeln. Es wurde eine entsprechende Petition aufgesetzt, um „die Zukunft des Unternehmens gemeinsam mit denjenigen zu gestalten, die am meisten an seinen Services hängen“. Da sich dem Aufruf längst auch Twitter-Aktionäre angeschlossen haben, muss das Thema auf der Aktionärsversammlung am 22. Mai behandelt werden, obwohl Unternehmensführung und Dorsey solchen Plänen ablehnend gegenüber stehen. Entschieden werden soll zunächst, ob mit Umwandlungen erfahrene Berater einen Prüfbericht erstellen sollen, wie man sich Twitter als Genossenschaft vorstellen könne. Als Vorbilder werden zum Beispiel die genossenschaftlich organisierte Nachrichtenagentur Associated Press (AP) und die Bildagentur Stocksy United angeführt.

 

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

KI-Lösungen: Heise macht es selbst

Das Medienhaus „Heise Medien“ hat kürzlich das auf generative Künstliche Intelligenz (KI) spezialisierte Medienhaus „Deep Content“ (digitale Magazine „Mixed“ und „The Decoder“) aus Leipzig gekauft. Damit will Heise die Zukunft generativer KI mitgestalten. „Deep Content“ entwickelte mit „DC I/O“ ein professionelles KI-gestütztes Workflow-Framework für Content-Teams und Redaktionen. Bereits seit Juni dieses Jahres kooperiert Heise mit „Deep Content“ bei der Produktion des Podcasts „KI-Update“. Hinter der Übernahme steckt die Idee, den neuen Markt weiter zu erschließen und hohe Gewinne einzufahren.
mehr »

Audiodeskription: Die KI liest vor

Die Hälfte der öffentlich-rechtlichen Sender verwendet inzwischen auch synthetische oder mit Künstlicher Intelligenz (KI) generierte Stimmen, um für Fernsehformate Audiodeskriptionen zu erstellen. Das ergibt sich aus Nachfragen von M bei den neun ARD-Landesrundfunkanstalten und beim ZDF. Neben professionellen Sprecher*innen setzen der MDR, WDR, NDR, Radio Bremen und das ZDF auch auf synthetische oder KI-Stimmen für die akustische Bildbeschreibung.
mehr »

Lokaljournalismus: Die Wüste droht

Noch sei es nicht so weit, aber von einer "Steppe" könne man durchaus schon sprechen, sagt Christian Wellbrock von der Hamburg Media School. Wellbrock ist Leiter von "Wüstenradar", einer Studie, die zum ersten Mal die bundesweite Verbreitung und zahlenmäßige Entwicklung von Lokalzeitungen in den letzten 30 Jahren unter die Lupe genommen hat. Sie erhebt, wie stark der Rückgang lokaler Medien inzwischen tatsächlich ist und warnt: In etlichen Regionen droht tatsächlich die Verbreitung von "Nachrichtenwüsten".
mehr »

„PR-Puppen“ proben den Aufstand 

Kreative, die der Tech-Konzern OpenAI (ChatGPT, DALL-E) zu einem geschlossenen Produkttest eingeladen hatte, leakten den Testzugang kürzlich und griffen OpenAI in einem Protestschreiben öffentlich an. Sie warfen dem Unternehmen u.a. vor, sie für Marketing und PR zu missbrauchen und Art Washing zu betreiben.Eine teilnehmende Person schildert M , wie es zu dem Leak kam und was Techkonzerne künftig bei der Zusammenarbeit mit Kreativen besser machen können.
mehr »