„Nachrichten ohne blabla“ für die Zielgruppe der 20 bis 36jährigen versprach das Online-Newsportal Watson, als es am 22. März in Berlin an den Start ging. Werbevermarkter Ströer, der bereits mehrere Contentangebote betreibt, darunter das mit Abstand reichweitenstärkste Nachrichtenportal T-Online, hatte dafür die Lizenzrechte vom Schweizer Portal watson.ch erworben. An den Erfolg der Eidgenossen kann der deutsche Ableger bisher nicht anknüpfen. Chefredakteurin Gesa Mayr zieht dennoch eine positive Bilanz – und erklärt im Gespräch, wie sie jetzt noch einmal angreifen will.
Nach einem fulminanten Start mit rund 11 Millionen Besuchen im Monat Mai ist die Reichweite von Watson seitdem stetig gesunken, lag zuletzt im September bei 6,3 Millionen Visits. Mit den mehr als 11 Millionen Besuchen des Schweizer Vorbilds können die Berliner nicht mithalten, auch wenn Ströer im März verkündet hatte, man peile die 10-Millionen-Marke an und wolle noch „in diesem Jahr auf Flughöhe kommen“. Ist diese Zielvorgabe noch realistisch? „Wir haben das 10-Millionen-Ziel fest im Blick. Ob wir es bis Ende des Jahres schaffen, müssen wir sehen“, antwortet die junge Watson-Chefin Mayr geschäftsmäßig. Für sie ist klar: „Wenn man so schnell loslegt wie wir, muss man schauen, dass man seine Lücke findet. Und das ist ein längerer Prozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen ist.“ Wie diese Lücke aussieht, das gelte es jetzt herauszufinden, vor allem mit Hilfe einer Analyse der letzten sieben Monate, denn Mayr will nun „nochmal angreifen, um wieder Fahrt aufzunehmen“.
An welchen Stellen man dafür das eigene Profil weiter schärfen will, erzählt die 32jährige in einem der schicken Konferenzräume, die zur Redaktion in der Berliner Torstraße gehören, die sich das Watson-Team mit den Kolleginnen und Kollegen von T-Online sowie der Ströer Social Publishing teilt. Jedes Berliner Start-Up würde sich in diesem Habitat wohlfühlen – auch wenn man bei Ströer statt auf den stereotypen Kicker auf eine der allgemeinen Fitness wohl förderlichere Tischtennisplatte setzt. Das hippe Ambiente passt zur Selbstdarstellung und zum Selbstverständnis des Watson-Teams, das sich auf Augenhöhe mit seinen jungen Usern bewegen will. „Die Watson-Journalisten zeigen Gesicht und Haltung, diese Erzählweise soll Transparenz und Nähe zu unserem Publikum schaffen“, sagt Mayr, die deshalb künftig der Vor-Ort-Berichterstattung viel mehr Raum geben möchte. Auch inhaltlich wolle man die Themen stärken, die die Lebensrealität der Zielgruppe betreffen: „Ein bisschen weniger ‚Studenten-Proteste in Bangladesch‘, ein bisschen mehr ‚Vodafone ist in ganz Deutschland down‘“ fasst sie es überspitzt zusammen. Die Bilanz habe gezeigt: Sehr gut laufen Geschichten über soziale Gerechtigkeit wie etwa die Armutskolumne, „auch, weil wir dazu unglaublich viel Feedback von den Nutzern erhalten und dieses Themenfeld sonst wenig bearbeitet wird“. Weiter ausbauen wolle man zudem den Gaming-Bereich sowie das Sport-Ressort.
Bei den Formaten setzt man auch künftig auf Fotos und vor allem Videos, denn „unser Storytelling ist eines unserer Alleinstellungsmerkmale. Wir haben eine ganz andere Bildsprache, portionierte, konzentrierte Information, keine ellenlangen durchgeschriebenen Texte“. Dazu passt auch die Fokussierung auf das Mobile. Entsprechend seiner strategischen Ausrichtung generiert Watson 84,2 Prozent seiner gesamten Reichweite über mobile Endgeräte. „Wenn man bei uns auf dem Bildschirm nur Text sieht, dann hat man etwas falsch gemacht“, konstatiert Mayr mit einem Lachen.
Was die Ausspielwege betrifft, möchte das Watson-Team in Zukunft verstärkt auf YouTube zu setzen. „Wir haben gesehen, dass sich rechte Propaganda auf YouTube unglaublich schnell verbreitet, was für uns ein Indikator ist, dass man vielleicht auch die Möglichkeit hat, dort mit den gleichen Mitteln dagegenzuhalten“, so Mayr. Auch Public Video steht ganz oben auf der To-Do-Liste. Die öffentlichen Screens werden bisher nur mit einem statischen Format genutzt und mit sogenannten „Good News“, also konstruktiven Nachrichten, bespielt. Mit Ströer im Rücken hat das Portal dabei freilich einen ganz entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Das Unternehmen ist mit mehr als 4.300 öffentlichen Bildschirmen, über die nach eigenen Angaben 38 Millionen Unique User der mobilen Zielgruppe erreicht werden, Marktführer für Public Video in Deutschland. Und auch sonst sorgt die Vermarktung durch Ströer, immerhin einer der größten Anbieter von Online-Werbung, für keine schlechte Startposition. An den Pressekodex halte man sich selbstverständlich, versichert Mayr auf Nachfrage, „auch wenn das nirgends rechtlich festgetackert“ sei. Denn die Selbstverpflichtungserklärung des Deutschen Presserats haben weder Watson noch T-Online unterschrieben, obwohl dafür eigentlich nur der Nachweis der journalistischen Tätigkeit nötig wäre. Und die kann man beiden Online-Portalen wohl kaum absprechen. So haben T-Online und der RBB erst kürzlich sogar eine gemeinsame Recherchekooperation verkündet.
In Zukunft will man bei Watson weiter wachsen. Aktuell besteht das Team aus 21 Mitarbeiter_innen in der Redaktion und fünf weiteren im Business Development. Am 1. November kommt auch endlich der neue Nachrichtenchef, freut sich Mayr. Der war vorher bei Focus Online und wurde damit ebenso wie die vom Spiegel-Jugendableger bento kommende Mayr sowie die meisten anderen seiner neuen Kolleg_innen von etablierten Medien abgeworben. Die Vermutung, dass dabei neben dem Anreiz, sich in ein völlig Projekt einbringen zu können, auch eine gute Bezahlung eine Rolle spielte, beantwortet Mayr zunächst mit einem „diplomatischen Schweigen“, wie sie sagt – um dann doch hinzuzufügen: „Ich glaube, dass hier jeder zufrieden ist. Wir haben eine Gehaltsstruktur, die sich durchaus mit dem, was tariflich bezahlt wird, messen kann.“
***Aktualisierung 9. November 2018***
Nur sieben Monate nach dem Start des Portals watson.de verlassen Chefredakteurin Gesa Mayr und ihre Stellvertreterin Anne Kathrin Gerstlauer die Redaktion. Nach Angaben sowohl des Unternehmens Ströer als auch von Gesa Mayr auf ihrem Facebook-Profil ist der Grund eine unterschiedliche Auffassung der Ausrichtung der Redaktion.