Der Europäische Gerichtshof hat in dieser Woche in Bezug auf vier Rechtsstreits in Frankreich, Großbritannien und Belgien geurteilt: Eine generelle und anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist rechtswidrig. Diese Entscheidungen sind wegweisend, weil Gerichte, Regierungen und Parlamente in der gesamten EU ihr weiteres Vorgehen an den Vorgaben aus Luxemburg orientieren werden. Die ersten Einschätzungen der Urteile gehen sehr weit auseinander.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann interpretiert die Urteile nicht als äußerste Grenzen des rechtlich möglichen, sondern als Standard-Überwachungs-Pflichtprogramm und forderte reflexartig: „Wir müssen alle Spielräume schnellstmöglich nutzen.“ Das sieht Digitalcourage anders: Genau vor dieser Reaktion haben wir gewarnt.
Darum haben wir gemeinsam mit mehr als 40 Organisationen aus 16 Ländern am Tag der Urteilsverkündung (6. Oktober 2020) einen offenen Brief veröffentlicht, der sich ganz grundsätzlich gegen Vorratsdatenspeicherung stellt. Bei dem Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz gab es Freude über das Urteil, weil es eine „deutliche Absage an all diejenigen [ist], die sich in den vergangenen Wochen erneut für die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen haben“. Kritik kommt beispielsweise vom EU-Abgeordneten Patrick Breyer, der kommentiert: „Unter dem massiven Druck der Regierungen und Eingriffsbehörden haben die Richterinnen und Richter unseren Schutz vor verdachtsloser Kommunikationserfassung in Teilen aufgegeben.“
Unabhängig von einer noch ausstehenden genaueren Bewertung der Urteile, warnen wir davor, dass die vom EU-Gerichtshof darin erlaubten Ausnahmen für Vorratsdatenspeicherung von Regierungen und Behörden unverhältnismäßig für umfangreiche Überwachung ausgenutzt werden. Wir fragen uns: Ist das Urteil stark genug? Wird es ausreichen um langfristig die kommerzielle und politische Gier nach Daten auf ein erträgliches Maß einzudämmen?
Letztendlich wird sich das erst zeigen, wenn in verschiedenen Ländern die Gesetze an die jüngsten Urteile angepasst werden und wenn diese Gesetze praktisch zur Anwendung kommen.
Grundsätzlich muss gesagt werden: Das jüngste Urteil des EU-Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung ist eine leider notwendige Bestätigung einer Selbstverständlichkeit. Wieder einmal musste Luxemburg klarmachen, dass generelle und anlasslose Massenspeicherung von Kommunikationsdaten illegal ist. Dass das in Demokratien überhaupt notwendig ist, liegt an Regierungen und Behörden, die vorhergehende höchstrichterliche Entscheidungen bewusst ignoriert haben.
Auswirkungen wird das Urteil auch auf das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung haben. Wie letztendlich der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht, bei dem wir eine Verfassungsbeschwerde eingereicht haben, reagieren werden, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Klar ist aus unserer Sicht, dass Parlamente, Gerichte und auch die Bevölkerung weiter aufpassen müssen, dass Überwachungsmaßnahmen die Ausnahme bleiben und nicht zum Standard werden.