Der Konflikt im Nahen Osten beschäftigt die Medienwelt so lange und intensiv wie kaum ein anderes Thema. Immer wieder gibt es massive Kritik an den Medien und ihrer Rolle darin. Im Vergleich zu anderen Krisenherden gibt es dabei momentan nicht nur Probleme mit der Quellenlage, sondern auch mit der Bewusstmachung antisemitischer Ressentiments. Darüber sprach M mit Kim Robin Stoller, Vorsitzende des Internationalen Instituts für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung (IIBSA).
M: Antisemitismus wird definiert als „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass ausdrücken kann.“ Was ist der Unterschied zwischen Post-Shoa-Antisemitismus und israelbezogenem Antisemitismus?
Kim Robin Stoller: Post-Shoa-Antisemitismus betrifft unmittelbar den deutschen Kontext: Die Erinnerung an die Shoah und die Verantwortung dafür wird abgewehrt, genauso wie die individuelle
oder kollektive Schuld der in Deutschland lebenden Nichtjüdinnen und Nichtjuden, ihrer Eltern und Großeltern und der deutschen Gesellschaft bzw. des deutschen Staates. Juden und Jüdinnen erinnern an die deutsche Tat – dafür werden sie gehasst. Eng damit verknüpft ist der israelbezogene Antisemitismus, der sich gegen Israel als Hassobjekt richtet. Antisemitische Bilder, Motive, Topoi gibt es auch in der Form, dass die Existenz des Staates Israel, des jüdischen Staates abgelehnt und bekämpft wird.
Wo verläuft die Grenze zwischen israelbezogenem Antisemitismus und legitimer Kritik an israelischer Politik?
Zwei Motive treten häufig auf: Das eine ist der „Rachefeldzug“ – jüdische Rache als ein christlich-antijüdisches Motiv, das auch im Kontext des Nationalsozialismus sehr verbreitet war und besagt, Juden würden Rache an den Deutschen nehmen. Das wird aktuell auf Israel projiziert – als Rachefeldzug der Israelis gegen die Palästinenser. Das andere ist „Juden und Jüdinnen als Kindermörder“, ein weit verbreitetes Motiv, nach dem Jüdinnen und Juden bewusst Kinder umbringen. Auch in Deutschland wird das bedient, indem entsprechende Interviewpartner*innen zu Wort kommen, die das artikulieren.
Mit dem Vorwurf, antisemitische Narrative zu bedienen, wurde auch Jan-Christoph Kitzler konfrontiert, der zum ARD-Team gehörte, das bei Recherchen im Westjordanland von israelischen Soldaten bedroht wurde. Im DLF-Gespräch berichtete er von einem palästinensischen Bauern, der erzählte, dass israelische Siedler sie vertreiben würden – indem sie ihr Wasser mit Tierkot verseuchten oder Wasserleitungen zerstörten. Kitzler zitierte dessen Aussage, die von Aktivist*innen in der Gegend bestätigt wurde. Das bedient zwar einerseits das antisemitische Motiv „Juden als Brunnenvergifter“, ist andererseits aber offenbar auch eine Tatsache, über die Journalist*innen berichten müssen.
Im Westjordanland haben wir konkret das Problem, dass zivilgesellschaftliche Organisationen häufig personelle Verflechtungen mit „politischen Bewegungen“ haben – wie bei der Terrorgruppe Palästinensische Front zur Befreiung Palästinas (PFLP). Die dienen dann wiederum als Quelle für Medien. So ergibt sich oft eine Kongruenz von einer Person, die interviewt wird und Organisationen, die das bestätigen. Das heißt nicht, dass es nicht Fälle von Menschenrechtsverletzungen gibt, aber man muss das immer kritisch hinterfragen. Im Gazastreifen gibt es das Problem, dass häufig die Hamas die Quelle von Informationen ist. Es taucht immer wieder die „palästinensische Gesundheitsbehörde“ auf, es müsste aber heißen: „unter der Kontrolle der Terrororganisation Hamas“.
Gibt es denn auch Kritik an Israel, die man äußern kann?
Die Frage impliziert ja ein scheinbares Kritikverbot, das es de facto in der Realität gar nicht gibt. Die deutsche Presse berichtet durchaus kritisch. Das Problem beginnt, wenn antisemitische Narrative genutzt werden, wenn es Doppelstandards in der Berichterstattung gibt und man Israel Vorwürfe macht, die man anderen Ländern nicht macht, wenn Israel dämonisiert wird oder die Existenzberechtigung aberkannt wird. Dabei gibt es auch einen psychischen Zusammenhang, dass nämlich die Schuld- und Verantwortungsabwehr zu einer Täter-Opfer-Umkehr führt: auf die Juden wird projiziert, was vorher die Deutschen gemacht machen.
Ihr Forschungsinstitut IIBSA hatte 2021 eine breite Mobilisierung des Antisemitismus vom links/antiimperialistischem Spektrum über die politische Mitte bis hin zu nationalistischen, neonazistischen und islamistischen Milieus analysiert. Wie sieht heute die Gewichtung der Milieus aus, die antisemitische Einstellungen transportieren?
Bei der militanten Mobilisierung des Antisemitismus im Kontext des Hamas-Massakers und Israels Reaktion sind viele Menschen mit muslimisch-arabischem Hintergrund auf den Straßen. In der MENA-Region (Nahost und Nordafrika), aus der einige der in Deutschland lebenden Migrant*innen, sowie viele Geflüchtete und Asylsuchende stammen, ist der militante Antisemitismus teilweise weiter verbreitet als in europäischen Gesellschaften. Das hat viele Gründe – etwa die staatliche Hetze gegen Israels Existenz in einigen MENA-Staaten, antisemitische Verschwörungstheorien und Holocaustleugnung in Moscheen und staatsnahen Medien oder Schulen. Auch Soziale Medien spielen eine große Rolle. Das heißt aber natürlich nicht, dass alle Personen mit Herkunftsbezügen in die MENA-Region, die in Deutschland leben, antisemitisch sind. Zudem sind auch anti-imperialistische und scheinbar „postkoloniale“ Gruppen für die Straßenmobilisierung relevant.
Dennoch beschreiben viele Medien den Antisemitismus in Deutschland als migrantisches Problem. Ist das auch eine Form der Schuldabwehr?
Auch wenn es ein Antisemitismus-Problem in (post-)migrantischen Communities in Deutschland gibt, kann das eine psychische Abwehrreaktion der deutschen Mehrheitsgesellschaft sein: Die Tat der eigenen Eltern oder Großeltern wird projiziert auf Migranten und Migrantinnen.
Im Blog der Bildungsstätte Anne Frank wird thematisiert, wie schwer es ist, den Kampf gegen Antisemitismus mit dem gegen Rassismus zu verbinden, denn der Antisemitismus werde aktuell instrumentalisiert, „um die Rufe nach Repression gegen Muslime und Migrant*innen aus muslimisch-arabisch geprägten Ländern zu rechtfertigen.“
Ja, das ist teilweise schwierig. Es gibt in Deutschland auch einen weit verbreiteten Rassismus. Ein anders gelagertes Problem besteht darin, dass ein scheinbar antirassistischer Reflex oft dazu führt, den Antisemitismus in einigen Milieus zu verharmlosen. Öffentliche Mordaufrufe gegen Juden und Jüdinnen, auch auf Demonstrationen, gibt es seit dem Hamas-Massaker vor allem dort, wo Islamist*innen, Nationalist*innen oder Terrororganisationen aktiv sind – aus dem islamisch oder arabisch oder türkisch geprägten Milieu.
Die Tatsache, dass im Zuge des Nahostkriegs auch muslimische Antisemit*innen gegen Israel mobilisieren, wird in der Zuwanderungsdebatte genutzt, um Stimmung zu machen. Wie können Medien vermeiden, dass die eine Diskriminierung gegen die andere ausgespielt wird?
Man sollte weniger pauschalisierend über die Migrant*innen, die Asylbewerber*innen oder die Geflüchteten an sich reden. Stattdessen sollte man viel genauer auf Funktionsträger*innen, Moscheeverbände, Vereinsstrukturen und Bewegungen schauen, die Antisemitismus propagieren: Kader von Organisationen oder Vereinen in Deutschland, wie der Blauen Moschee in Hamburg, die Muslimbruderschaft, Hamas, PFLP, iranische Revolutionsgarden oder türkische Faschist*innen. Diese Strukturen sollten mehr fokussiert und das Strafrecht auf Antisemitismus ausgeweitet werden.
Wie können Journalist*innen in Deutschland den aktuellen Nahostkrieg einordnen – orientiert am ethischen Kompass „Menschenrechte“ und dem Antidiskriminierungsgebot des Pressekodex ?
Ich glaube, für eine Einordnung ist Wissen enorm wichtig. Viele Journalist*innen, die nicht in der MENA-Region gelebt oder sich mit den Diskursen auseinandergesetzt haben, wissen nicht, was dort passiert. Zentral ist dort der Vernichtungs-Antisemitismus von Bewegungen und Terrorgruppen, die Israel zerstören und Jüdinnen und Juden umbringen wollen. Wir haben zudem einen asymmetrischen Krieg: Die einen wollen töten, und die anderen wollen einfach nicht getötet werden. Und Menschenrechte spielen für die, die töten wollen, überhaupt gar keine Rolle. Noch ein Problem ist, wie fängt man das in der Berichterstattung auf, dass es ein berechtigtes Anliegen Israels ist, die Hamas zu entmachten und auch die Geiseln zu befreien? Die Bilder sprechen eine andere Sprache, weil im Moment auf die zivilen Opfer in Gaza abgestellt wird.