Für Solidarität und Medienfreiheit

ver.di-Veranstaltung "Journalismus ist kein Verbrechen" am 9. Mai in Berlin mit Erk Acarer (Bürgin/taz), Dolmetscher Mehmet Calli, Mustafa Kuleli (Türkische Journalistengewerkschaft TGS), Ömer Erzeren (Journalist und Buchautor) und ver.di-Sekretär Jörg Reichel (v.l.n.r.) Foto: Christian von Polentz

„Wir haben in Deutschland an allen Stationen der Reise Kollegen kennengelernt, die mit uns leiden und sich mit uns freuen, die uns unterstützen. Dank ihres Einsatzes werden sich die Journalisten in der Türkei stärker fühlen. Ich habe gespürt, dass es eine internationale Solidarität gibt. Journalisten sind weltweit wie eine Nation“, sagte Mustafa Kuleli, TGS-Generalsekretär, gegenüber M in Berlin.

Die deutsche Hauptstadt war der letzte Veranstaltungsort der Reihe „Journalismus ist kein Verbrechen“ mit dem Gast aus der Türkei. Von der dju in ver.di organisiert, kam der Gewerkschafter seit dem 4. Mai in Stuttgart, Frankfurt am Main, Braunschweig, Hamburg und Berlin mit Verdianern und anderen DGB-Mitgliedern zusammen, um über Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei zu diskutieren. Das Land nimmt derzeit den 155 Platz in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen ein. Mehr als 150 Medienschaffende sitzen im Gefängnis, in diesem Punkt erreicht der Erdogan-Staat die traurige Spitzenposition weltweit. Mindestens 156 Medienhäuser wurden geschlossen. Soziale Netzwerke werden zensiert, teilweise gesperrt.

Es sei mit anderen jungen Kolleg_innen vor drei Jahren nach den Gezi-Protesten in den Vorstand der „Türkiye Gazeteciler Sendikasi“ (TGS) gewählt worden, erzählte Mustafa Kuleli. Er wollte sich um die sozialen und arbeitsrechtlichen Belange der Mitglieder kümmern, Arbeitskämpfe bestreiten, Tarife verhandeln. Journalst_innen verdienen zwischen 400 und 500 Euro in der Türkei. Die Arbeitslosenquote beträgt insgesamt 10 Prozent bei Journalist_innen inzwischen 30 Prozent. Doch noch mehr hat sich politisch verändert. Verhaftungen, Medienschließungen, Internetzensur – niemand könne sich mehr frei äußern. Eine „Twitterzensur“ müsse man sich zum Beispiel so vorstellen: Jemand bekomm zwar mit, dass ein Tweet abgesetzt worden ist. Jedoch erfahre man nicht den Inhalt, die URL-Adresse werde gestrichen. Nach etwa zwei Monaten erhalte der Absender dann eventuell die Information, dass es ein Verbot gegeben habe.

Gewerkschaftsarbeit bestehe demzufolge derzeit in Lobby-Arbeit sowohl in der Türkei als auch in der EU. Es gebe eine enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Journalistenföderation (EJF). Die EJF unterstützt die Kampagne „Journalismus ist kein Verbrechen“, die in der Türkei ins Leben gerufen wurde. Natürlich würden die Prozesse gegen Journalist_innen beobachtet, soweit wie möglich werden Inhaftierte und ihre Familien durch Rechtsbeistand, mitunter auch finanziell und psychologisch unterstützt. „Das ist insgesamt sehr schwierig, da Kontakte in die Gefängnisse verboten sind.“ Deshalb sei es umso dringlicher, dass Journalist_innen in anderen Ländern das Thema Medienfreiheit in der Türkei auf die Tagesordnung setzen und darüber berichten. „Es würde helfen, wenn Delegationen mit Kollegen auch aus Deutschland in die Türkei reisen.“ Sinnvoll sei es, dafür auch Prominente zu gewinnen, zeigte sich Mustafa Kuleli überzeugt.

Mustafa Kuleli (Türkische Journalistengewerkschaft TGS) und Ömer Erzeren (Journalist und Buchautor) im Berliner ver.di-Haus
Foto: Christian von Polentz

Ömer Erzeren ist freier Journalist und Buchautor. Zuletzt veröffentlichte er den Roman „Eisbein in Alanya“. Er zeichnete ein düsteres Bild von der türkischen Gesellschaft, gespalten in zwei nahezu gleichgroße Lager: für und gegen Erdogan. Das Erdogan-Regime gebe es schon lange, jedoch sei es mit dem Referendum für die Präsidialdiktatur abgesegnet worden. „Das Parlament wurde entmachtet, die Gewaltenteilung aufgehoben. Der Präsident entscheidet über die Besetzung von Gerichten, wer Rektor in einer Universität wird… “. Mit Dekreten werde im „Ausnahmezustand“ regiert, erklärte Ömer Erzeren anschaulich. Da werde dann ein privater Kindergarten per Dekret geschlossen, weil sein Name, dem einer Zeitung der Gülen-Bewegung ähnelt. Solche Beispiele gebe es zu Hauf. In Wirtschaft und Politik würden Anhänger der AKP begünstigt. Die Medien werden mittlerweile von Bauunternehmen geführt, die Erdogan partnerschaftlich oder mehr verbunden seien. Ein Fonds profitabler staatlicher Unternehmen erlaube dem Präsidenten zu tun, was er wolle. Erzeren zeigte sich überzeugt, dass die Repressionen weiter zunehmen werden. „Es wird keine freie Wahlen mehr geben.“ Selbst einen weiteren Militärputsch hielt er für möglich. Auf Nachfrage nach den Zustimmungsverhältnissen zitierte Erzeren Umfrageergebnisse, die besagten, dass die Arbeiterschaft weitgehend nicht hinter Erdogan stehe, ebenso wenig wie die Jugend. Letztere gebe ihm doch etwas Hoffnung. Denn, was zurzeit auf in den sozialen Medien ablaufe sei „eine gute Opposition“. Die jungen Leute machten hier „Großartiges, was die anderen Medien nicht schaffen“, treffsicher, ideenreich und häufig mit Ironie.

Erk Acarer; Journalist von Birgün, zurzeit bei der taz
Foto: Christian von Polentz

Erk Acarer, Redakteur der türkischen Zeitung Birgün, arbeitet zurzeit für die tageszeitung (taz) in Berlin. Gegen ihn laufen derzeit mehrere Ermittlungsverfahren in der Türkei unter anderem wegen des Terrorvorwurfs. Er berichtete von einem Kollegen, der von einem Tag auf den anderen wegen absurder Vorwürfe verhaftet worden war. Viele Kollegen würden versuchen, die „schlechte Entwicklung“ in der Türkei, Fälle wie den von Deniz Yücel oder auch die schmutzigen Kontakte der türkischen Machthaber etwa zum IS aufzuzeigen. Das bringe sie natürlich in Schwierigkeiten. Acarer kritisierte Kollegen, die Erdogan nahe stehen, die für Geld alles täten. Es sei problematisch, wenn sie sich als Journalisten bezeichnen. Sie seien die „Killer, die den Abzug betätigen“, sage man über sie. „Wobei in deren Augen sind wir, die die Erdogan kritisieren, die Landesverräter“, so Acarer

Mustafa Kuleli sah das etwas differenzierter. In der TGS mit ihren 1100 Mitgliedern seien vor allem Journalist_innen aus den regimekritischen Medien wie Cumhuriyet und Birgün organisiert. Jedoch vertrete man auch Kollegen aus den „Mainstream-Medien“, die ihren Job machen. „Als Gewerkschaft und unter sozialen Gesichtspunkten können wir ihnen schlecht empfehlen, zu kündigen“, sagte Kuleli. Wir fordern die Freilassung aller inhaftierten Journalist_innen, auch von kurdischen Kolleg_innen, die wegen ihres Berufes verfolgt werden. Auch da gebe es schon mal Kritik von der Basis. „Das finde ich beschämend“, sagte Kuleli. „Das Recht auf Demokratie und Menschenrechte stehe allen gleichermaßen zu.“ Dabei sehe sich die Mediengewerkschaft mit ihrer Kritik an der Politik Erdogans „auf der richtigen Seite“. Und in besseren Zeiten werde man dann die ausstehenden Lohnerhöhungen bei Cumhuriyt und Birgün einfordern, sagte Mustafa Kuleli am Schluss der Berliner Veranstaltung mit einem Augenzwinkern.


Im Dialog bleiben

Wenig Optimismus für neue Opposition

Anonymer Tweet zur Einschüchterung

Offene Kritik führt hinter Gitter

 

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