Ein Diversity Guide der NdM für die tägliche Praxis
Könnt ihr uns eine islamische Expertin zum Thema Kopftuch vermitteln?“ Korrekt heißt es: muslimische Expertin! Anfragen wie diese erhalten die Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM) tagtäglich, denn sie entwickelten sich mit ihrem Engagement zur ersten Adresse, wenn es um Vielfalt in den Medien geht. Ihre langjährige Geschäftsführerin Konstantina Vassiliou-Enz hat nun einen Diversity Guide konzipiert und die geballten Erfahrungen des Vereins inhaltlich aufbereitet: informativ, wissenschaftlich fundiert, praxisnah und konstruktiv.
Das 144 Seiten starke Handbuch erscheint Mitte März. Es ist lesefreundlich mit vielen Grafiken und Zitaten gestaltet und locker im Ton geschrieben. Mit persönlicher Ansprache werden die Leser*innen abgeholt und hineingezogen in die Praxis der medialen Diversität und wie man sie umsetzt.
Zuerst leistet Vassiliou-Enz noch Überzeugungsarbeit und nennt sieben Gründe, „warum Medien mehr Vielfalt zum Überleben brauchen“. Das fängt damit an, Menschen aus Einwanderungsfamilien als neue Zielgruppen zu gewinnen und reicht bis zum demokratischen Auftrag, alle Bevölkerungsgruppen zu repräsentieren – in Medienbildern und beim Medienpersonal. „Nur vielfältige Redaktionen können die Wirklichkeit richtig abbilden“, betont auch dju-Vorsitzende Tina Groll in ihrem Gastbeitrag, dem acht weitere Artikel folgen – von Medienpraktiker*innen mit und ohne Migrationsgeschichte.
In den insgesamt vier Kapiteln des Diversity Guides gibt es viele Best-Practice-Beispiele, vor allem aus der britischen BBC, Literaturhinweise und Praxistipps. Journalist*innen erfahren etwa, wie sie sensibler über Hassverbrechen berichten oder wie Redaktionen die eigene Berichterstattung per Software – Story Tracker, Janet Bot, Gender Equality Tracker – analysieren können, um unterrepräsentierte gesellschaftliche Gruppen stärker zu berücksichtigen. Checklisten für Themen, Perspektivenvielfalt und diverse Stimmen, für journalistische Sprache und diskriminierungsarme Bilder runden das Kapitel „Berichten für die ganze Gesellschaft“ ab.
Unter “Diversität im Medienhaus“ nimmt Konstantina Vassiliou-Enz dann die Vielfalt im Personal unter die Lupe und plädiert für eine Datenerhebung, denn: „Wer nicht gezählt wird, zählt nicht.“ Nach einer „ehrlichen Bestandsaufnahme, wie es um Vielfalt und Diskriminierung im Unternehmen steht“, müsse Diversität zur Chef*innensache werden – wie etwa bei der Deutschen Welle, wo es seit 2020 eine sechsköpfige Chefredaktion mit vielfältigen Wurzeln gibt. Eine proaktive Nachwuchssuche hat zum Beispiel der HR erfolgreich praktiziert, als er Volontariate gezielt mit modifizierten Anforderungen für „Journalist*innen der Zukunft“ ausschrieb und so viele Bewerber*innen mit Einwanderungsgeschichte rekrutieren konnte. Um die gewonnenen Talente zu halten, sei wiederum eine Redaktionskultur wichtig, die „vielfältige Identitäten und Erfahrungen wertschätzt“. Dazu gehört auch der Schutz vor Hasskommentaren, von denen Menschen mit Migrationshintergrund besonders häufig betroffen sind.
Da nur „eine verbindliche Zielmarke effektiv Veränderungen bewirkt und diese messbar und transparent macht“, fordern die NdM eine Quote für Menschen aus Einwanderungsfamilien. Diese sollte 30 Prozent betragen, weil die „Erfahrungen bei der Gleichstellung von Frauen gezeigt haben, dass weniger nicht ausreicht, um Veränderungen anzustoßen.“ Das gilt auch für Journalist*innen mit Migrationsgeschichte, wie Bernd Ulrich, Stellvertretender Zeit-Chefredakteur und Ressortleiter Politik, betont: „Ich habe vor allem nach guten und qualifizierten Leuten geschaut, die auch eine originelle, interessante oder abweichende Biografie hatten. Dabei habe ich aber festgestellt: Wenn nur einer oder eine mit einer abweichenden Biografie da ist, dann muss sie die ganzen Fremdheitsreibungen alleine auffangen. Man könnte auch sagen: Je mehr Verschiedene da sind, desto schöner ist Verschiedenheit.“
Im vierten und letzten Kapitel gibt es dann einen Ausblick auf den weiteren Weg hin zu mehr Diversität im Journalismus. Miranda Wayland, Leiterin der Abteilung „Creative Diversity“ der BBC berichtet, wie Großbritanniens öffentlich-rechtlicher Rundfunk seine Diversity-Ziele erreicht. Da Zielsetzungen aber nur nützen, wenn sie überprüft werden, bedarf es eines Evaluationstools. Christine Horz, Professorin für Transkulturelle Medienkommunikation an der TH Köln, hat eines für „Diversity und Chancengleichheit in den Medien“ (DICUM) entwickelt.
Last not least werden in Gastbeiträgen die Herausforderungen thematisiert, denen andere benachteiligte Gruppen – Frauen, LSBTQI+, Menschen mit Behinderung und ohne bildungsbürgerlichen Hintergrund – im Journalismus gegenüberstehen. Fachwissen über diese Diversity-Aspekte soll in eine intersektionale Neuauflage des Handbuchs einfließen.