Mehr Perspektiven bei Recherche im Team

Symbolbild: 123rf

Dass investigativer Journalismus nur noch in Rechercheverbünden möglich sei – so weit würde sie nicht gehen, sagte Stefanie Dodt, die an der Recherche zu den „Paradise Papers“ beteiligt war. Jedoch: „Die Chancen, die solche Kooperationen bieten, sind für mich gigantisch und könnten noch viel mehr genutzt werden“, so Dodt bei der jüngsten Veranstaltung zur Medienzukunft des Instituts für Journalistik an der TU Dortmund.

Die Ausgangsfrage des Online-Treffens: Wie können Recherchenetzwerke die Qualität im Journalismus sichern und verbessern? Los ging es mit einem Blick auf den 2016 gegründeten Rechercheverbund Investigate Europe, dessen Mitarbeiter*innen aus mehreren europäischen Ländern stammen: Ziel sei es, eine „Summe aus europäischen Perspektiven“ darzustellen, sagte Elisa Simantke, Editorial Director von Investigate Europe. Simantke betonte, dass der Verbund sich nicht nur für Ad-hoc-Recherchen zusammenschließe, sondern dauerhaft zusammenarbeite. Die Kolleg*innen verteilten sich mittlerweile auf elf europäische Länder, der jüngste Neuzugang sei ein Journalist aus Ungarn.

Ziel von Investigate Europe sei es, eine Geschichte in ihrer „europäischen Komplexität“ zu erzählen. Was das bedeutet, zeigte Simantke am Beispiel einer Recherche über Lkw-Fahrer*innen aus Osteuropa: Die Recherche habe nicht nur auf einem deutschen Rastplatz stattgefunden, sondern führe über Warschau, wo die polnische Aufsichtsbehörde für den Straßentransport sitzt, über eine Polizeikontrolle in Belgien bis hin zu einem Parkplatz in Frankreich. „Meistens machen wir die Welt erst einmal ein bisschen komplizierter“, sagte Simantke. Doch man bemühe sich, die klassische journalistische Frage zu stellen, wer von einer Sache profitiere, und diese Frage dann im europäischen Zusammenhang zu beantworten.

Das Team arbeite von unterschiedlichen Orten in Europa aus gemeinsam an den Themen – schon vor Corona sei virtuelles Arbeiten Alltag gewesen, berichtete Simantke. Alle drei bis vier Monate veröffentliche Investigate Europe eine europäische Recherche. Insgesamt 18 Recherchen seien es bislang, aus denen etwa 400 Artikel entstanden sind, die in unterschiedlichen europäischen Ländern erscheinen.

Vom Verkauf der Recherchen an Medienpartner*innen allein könne Investigate Europe nicht überleben. Das Netzwerk finanziere sich zum Großteil über Stiftungen und private Spender*innen. Es ist als Genossenschaft organisiert und gemeinnützig. Als journalistisches Projekt den Status der Gemeinnützigkeit zu bekommen, sei nicht ganz einfach, sagte Simantke: „So weit sind wir in Deutschland noch nicht.“

Für Stefanie Dodt, Journalistin im Ressort Investigation beim NDR und im ARD-Studio in New York, gibt es einen ganz klaren Vorteil internationaler Recherchenetzwerke: die gleichzeitige, weltweite Veröffentlichung einer Vielzahl an Beiträgen zu einer Geschichte. „Die Relevanz, die dadurch entsteht, ist kaum zu überschätzen, weil das natürlich einen ganz anderen Bums hat“, sagte Dodt, die Teil des Rechercheverbunds aus NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ ist.

Der Verbund sei ein „gewachsenes Netzwerk“, man kenne sich untereinander, wisse, wo die inhaltlichen Schwerpunkte der Kolleg*innen liegen und könne auf dieser Grundlage Teams bilden. „Da spielt es bei uns in erster Linie keine Rolle, in welchem Medium das Ganze dann am Schluss landet, sondern es geht erstmal darum, die Geschichte abzuklopfen, alles zusammenzutragen, was man finden kann.“ Erst danach denke man über die Art der Veröffentlichung nach.

Recherchen vom Ausmaß der „Paradise Papers“ könne dieser Verbund nicht allein stemmen, sagte Dodt. Sie hob die Bedeutung des International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) aus Washington hervor, ein Netzwerk, dem über 270 Investigativ-Journalist*innen weltweit angehören, und an das sich Journalist*innen bei umfassenden Recherchen wenden können. Das ICIJ ist komplett spendenfinanziert – ein Modell, das in den USA besser funktioniere als in Deutschland, denn dort sei es nicht ungewöhnlich, dass Privatpersonen und Stiftungen für Journalismus spenden.

Wer Qualitätsjournalismus bieten wolle, könne sich Konkurrenzdenken nicht leisten, sagte Dodt. Vielmehr gehe es darum, intellektuelle Kompetenzen und finanzielle Ressourcen zu bündeln, um eine Geschichte besser zu machen. Dodt berichtete auch von ihren Recherchen zu den Verbindungen von VW zur brasilianischen Militärdiktatur und über den Handel mit Blut an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Für diese Recherchen hatte sich ein Verbund aus NDR, SWR und der „Süddeutschen Zeitung“ gebildet, zum Thema Bluthandel arbeitete das Team auch mit Pro Publica zusammen, einem Non-Profit-Newsroom, der sich durch Stiftungen finanziert.

Nicht immer brauche es „gigantische Strukturen“, um in Netzwerken zu recherchieren, sagte Dodt. „Die Schwelle um so etwas zu starten, ist aus meiner Sicht heute geringer denn je.“ Denn Informationen über Kolleg*innen weltweit seien leicht zugänglich, oft lasse sich mit wenigen Klicks herausfinden, wer für welchen Bereich Expert*in ist. Es sei toll, ein großes Netzwerk wie das ICIJ zu haben, sagte Dodt. „Aber man kann auch einfach so jemanden ansprechen und abklopfen: Sind hier dieselben Standards? Ist man irgendwie auf einer Linie? Und dann gemeinsam loslegen.“

Weniger um internationale Recherchen ging es in der anschließenden Diskussionsrunde; darin wurde die Frage aufgeworfen, wie es um die Möglichkeiten im Lokalen stehe. Die Runde zeigte sich vorsichtig bei der Einschätzung, ob sich das Modell der Netzwerke zur investigativen Recherche auf den Lokaljournalismus übertragen lasse. „Das ist, glaube ich ein Szenario, das jede Lokalredaktion sofort gerne umsetzen wollen würde“, sagte Wiebke Möhring, Professorin für Online- und Printjournalismus am Institut für Journalistik. „Ich befürchte nur, dass die Realität der Ressourcen in den einzelnen Redaktionen dem relativ stark entgegensteht.“ 

Die Veranstaltung ist Teil einer Diskussionsreihe zur Zukunft des unabhängigen Journalismus. Seit April 2020 lädt das Institut für Journalistik monatlich zu den Videokonferenzen ein, um über Entwicklungen und Ansätze für die Medienlandschaft zu diskutieren.

 

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