Rente für alle oder Flickenteppich?

Weitere Hürden auf dem Weg zu einer Rentenversicherung für alle Erwerbstätigen. Foto: OfotoRay/Pixabay

Alle Selbstständigen verpflichtend in das Altersvorsorgesystem einzubeziehen, ist ein langgehegtes, dringliches sozialpolitisches Vorhaben. Nicht nur die DGB-Gewerkschaften sehen es als wichtigen Schritt zu einer Rentenversicherung für alle Erwerbstätigen. Doch scheint die Ampelregierung den Reformweg mit eigenen Hürden zu pflastern. Das beleuchtete eine Fachtagung, die ver.di gemeinsam mit zwei Arbeitnehmerkammern am 24. Oktober in Berlin veranstaltete.

Wie bereits das Haus der Selbstständigen, thematisierte auch das ver.di-Referat Selbstständige die Reformpläne für die Rentenversicherung. Diesmal gemeinsam mit den Arbeit(nehmer)kammern von Bremen und dem Saarland. Die Bundesregierung müsse das Rentensystem „zeitnah entschlossen in Richtung Erwerbstätigenversicherung“ reformieren, heißt es in einer gemeinsamen Presseerklärung. Befürworter können sich die 1998 umgesetzte Rentenreform im Nachbarland Österreich, wo seither ausnahmslos alle Erwerbstätigen einbezogen sind, „sehr gut als Vorbild für Deutschland vorstellen“. Das erklärte etwa Dr. Karin Schulze Buschoff vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut Düsseldorf (WSI). Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht, so Gutachter Prof. Dr. Daniel Ulber von der Uni Halle-Wittenberg, sei die Beseitigung bisheriger Ausnahmen zugunsten einer generellen Einbeziehung Selbstständiger in die Rentenversicherung sinnvoll. Dass es demnächst so kommt, muss allerdings bezweifelt werden.

Forderung nach universeller Lösung

Die Pläne der Bundesregierung sehen anders aus: Zunächst hat die Ampel – im Gegensatz zu Vorhaben selbst der Großen Koalition zuvor – schon in ihrem Koalitionsvertrag „Wahlfreiheit“ bei der Pflicht zur Altersvorsorge Selbstständiger festgeschrieben. Das bedeutet, Betroffene dürfen “im Rahmen eines einfachen und unbürokratischen Opt-Outs“ auch ein privates Vorsorgeprodukt statt der gesetzlichen Rentenversicherung wählen. Mehr noch: Es sollen nur „neue“ Selbstständige zur Vorsorge verpflichtet werden, und dies auch nur nach einer Karenzzeit von zwei Jahren.

Statt der angestrebten Vereinheitlichung führe eine solche Reform ganz „zwangsläufig zu einem Flickenteppich“. Die Beseitigung bisheriger Fragmentierung und bestehender Ungerechtigkeiten sei nur mit einer „universellen Lösung, vergleichbar der für abhängig Beschäftigte“ möglich, bekräftigte Karin Schulze Buschhoff. Das trage der Schutzbedürftigkeit Selbstständiger beim Verkauf ihrer Arbeitskraft Rechnung, stärke die Solidargemeinschaft und werde zudem Scheinselbstständigkeit eindämmen, da Auftraggeber keine Sozialversicherungsbeiträge mehr sparen könnten.

Das gegenwärtige Rentenversicherungssystem sei „in sich nicht mehr logisch“, argumentierte Prof. Ulber. Unnötige Kosten für die Allgemeinheit, zusätzliche Rechtsprobleme wie Statusfeststellungsverfahren, zahlreiche Ausnahmeregelungen und Ungerechtigkeiten würden beseitigt, wenn gemäß Gleichheitssatz nach Artikel 3 Grundgesetz alle Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherungspflicht einbezogen würden. Einwände dagegen „ziehen nicht“, entscheidend sei jedoch das Wie der Umsetzung.

Votum der Selbstständigen eindeutig

Eine zu Jahresanfang gestartete repräsentative Online-Befragung sollte zeigen, wie Selbstständige selbst auf das Problem der Alterssicherung blicken. Dr. Magnus Brosig von der Arbeitnehmerkammer Bremen und Dr. Torsten Brandt, Arbeitskammer des Saarlandes, stellten für die Auftraggeber gemeinsam mit dem DGB die Ergebnisse vor. Von den 748 befragten Selbstständigen gaben demnach 17 Prozent an, dass sie über die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) pflichtversichert seien, ebenso viele seien dort freiwillig versichert. Leicht über 40 Prozent betreiben demnach eine private Altersvorsorge. Jedoch 17 Prozent verfügen über keinerlei Basisvorsorge für das Alter. Bei Selbstständigen mit unter 2000 Euro monatlichem Nettoeinkommen liegt dieser Anteil sogar bei 40 Prozent.

15 Prozent aller Befragten gaben an, dass sie auch über keinerlei Zusatzvorsorge verfügen. Mehr als die Hälfte der Befragten sagte, dass für sie eine auskömmliche Alterssicherung nicht oder nicht ausreichend leistbar sei. 21 Prozent gehen davon aus, dass sie im Alter von staatlicher Unterstützung abhängig sein werden. Hinsichtlich der Wünsche und Erwartungen an eine sinnvolle Altersvorsorge votierten 76 Prozent der Befragten dafür, dass Renten wie Löhne dynamisch steigen sollten. Sogar 81 Prozent sprachen sich für eine “allgemeine Erwerbstätigenversicherung“ aus. „Gutes gleiches Recht für alle“, sehen die Auswerter als Quintessenz ihrer Befragung: „Selbstständige sind wie Arbeitnehmer klare Befürworter einer Rentenversicherung für alle Erwerbstätigen.“

Unbedingt Verzicht auf Ausnahmen

Auch ver.di-Bundesvorstandsmitglied Christoph Schmitz hatte zuvor schon angemahnt: Versorgungslücken würden nicht ausreichend geschlossen, wenn Selbstständige erst zwei Jahre nach einer Neugründung zur Vorsorge verpflichtet würden. „Der Gesetzgeber sollte unbedingt auf solche Ausnahmen verzichten, auch um Ungleichbehandlungen zwischen Selbstständigen zu verhindern.“

Zur abschließenden Podiumsdebatte begrüßte Moderatorin Dörte Grabbert (Arbeitskammer des Saarlandes) die Selbstständigen Ronald Gotthelf und Dr. Rolf Sukowski sowie Dr. Reinhold Thiede von der Deutschen Rentenversicherung Bund und Staatssekretar Dr. Rolf Schmachtenberg (v.l.n.r.).
Foto: H. Nehrlich

Warum dennoch Abwahloption und Karenzzeiten? Diesen Fragen sah sich Dr. Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, gegenüber, als er die Pläne der Ampel und den Stand ihrer Umsetzung erläuterte. Die erklärten Ziele der Bundesregierung ­– Altersarmut zu beheben, Versicherungsbiografien zu verstetigen, die Solidargemeinschaft zu stärken und Wettbewerbschancen anzugleichen – riefen auf der Tagung keinen Widerspruch hervor. Zustimmung gab es auch für die Aussage, dass alle bestehenden obligatorischen Absicherungssysteme, einschließlich der KSK, beibehalten werden sollen. Und dazu, dass künftig „einkommensgerechte“ Beiträge erhoben und die Mindestbeitragsgrenze bei der GKV abgeschafft werden sollen.

Was bringt ein Opt-out-Angebot wirklich?

Anders die Resonanz auf die Erklärung, dass der zu erwartende rot-grün-gelbe Gesetzentwurf auf jeden Fall eine Opt-Out-Regelung vorsehen werde. Selbstständigenvertreter Rolf Sukowski sieht nach jahrelangen Reform-Beteiligungsverfahren „das Rad rückwärts gedreht“. Der freiberufliche Erwachsenenbildner und ver.di-Selbstständigenvertreter Ronald Gotthelf riet dringend, „die Finger davon zu lassen, es hilft uns nicht weiter“. Abwahloptionen verursachten einen beträchtlichen Kontrollaufwand, machte Dr. Reinhold Thiede, Abteilungsleiter bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, geltend. Auf hohe Verwaltungskosten hatte bereits Prof. Ulber hingewiesen. Aus dem Publikum wurde die Befürchtung laut, dass die private Versicherungswirtschaft animiert sei, verlockende, scheinbar günstige Opt-Out-Angebote für junge, einkommensstarke Selbstständige vorzulegen, die sich am Ende als Schmalspurlösungen ohne Dynamisierung erweisen könnten. Das nütze den Betroffenen wenig, schwäche aber das gesetzliche System.

Schmachtenberg versicherte, dass die Reform möglichst verwaltungsarm und weitgehend digital vorbereitet werde. Er verteidigte die Opt-Out-Lösung als „zusätzliche Wahlmöglichkeit“ für Selbstständige, die „im politischen Konsensraum offenbar nötig“ sei. Die Vermutung Reinhold Thiedes, dass sich letztlich „gar nicht so viele“ Selbstständige tatsächlich aus der gesetzlichen Altersvorsorge herausoptieren würden, nährte die Frage nach Sinn und Aufwand. Gleichzeitig sah Thiede gute Argumente für die gesetzliche Rentenversicherung: Die biete selbst bei der momentan hohen Inflation immerhin einen Ausgleich der Geldentwertung durch Dynamisierung, schließe Reha-Maßnahmen, Erwerbsminderungsrente und Hinterbliebenenversicherung ein. Vergleichbares müssten die Privaten erst einmal anbieten.

Ein „solidarisches Rentensystem, in das alle einzahlen und von dem alle Arbeitenden profitieren“, wie es Peer Rosenthal, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen angesichts aktueller Umfrageergebnisse formuliert hatte, bleibt ein sinnvolles Ziel. Die Fachtagung hat neuerlich Argumente geliefert, um entsprechenden Druck auf die Politik auszuüben. Noch bleibt wohl auch etwas Zeit. Die Bundesregierung will einen Gesetzentwurf zur Altersvorsorgepflicht für Selbstständige erst vorlegen, wenn das sogenannte Rentenpaket II verabschiedet ist. Und das ist bereits viele Monate überfällig.

 

 

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