Ein buntes Band wurde nicht durchschnitten, sondern sofort auf hohem Niveau inhaltlich debattiert: Um die Altersvorsorgepflicht für Selbstständige ging es bei der Auftaktveranstaltung der neuen Berliner Anlaufstelle des Hauses der Selbstständigen. Gutachterliches Fazit am Ende: „Alle Probleme sind lösbar, wenn man sie lösen möchte. Man sollte gemeinsam über die künftige Ausgestaltung nachdenken.“
Ein brisantes Thema war zur Eröffnung der hauptstädtischen Anlauf- und Beratungsstelle des bisher nur in Leipzig ansässigen Hauses der Selbstständigen (HDS) am 28. Juni 2023 gewählt. Und die Frage, ob Licht am Ende des Vorsorgetunnels für Solo-Selbstständige aufscheint, fand große Resonanz – sowohl im Live-Stream als auch am Veranstaltungsort in der Brandenburgischen Landesvertretung in Berlin-Mitte.
Bekanntlich hatte die Ampelregierung angekündigt, in dieser Legislaturperiode erneut Anlauf zu einer Altersvorsorgepflicht für Selbstständige zu nehmen. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir werden für alle neuen Selbstständigen, die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem unterliegen, eine Pflicht zur Altersvorsorge mit Wahlfreiheit einführen. Selbstständige sind in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert, sofern sie nicht im Rahmen eines einfachen und unbürokratischen Opt-Outs ein privates Vorsorgeprodukt wählen.“
Mit Gundula Roßbach, Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung, Prof. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, sowie Dr. Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, stellten sich hochrangige Expert*innen der Diskussion zum Stand der Umsetzung.
Als Win-Win-Situation verfassungsrechtlich zulässig
Das aktuelle Stimmungsbild sei heterogen, erläuterte zunächst Prof. Dr. Daniel Ulber von der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg: Während eine Versicherungspflicht für Selbstständige einigen Akteur*innen im gesellschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Raum zu weit gehe, sähen andere bereits deutlichen Nachbesserungsbedarf im noch für dieses Jahr erwarteten Gesetzgebungsprozess. Ulber hatte Ende 2022 im Auftrag des HDS ein Gutachten zur „Mindestabsicherung von Selbstständigen in der Rentenversicherung“ vorgelegt.
Eine Versicherungspflicht von Selbstständigen in der gesetzlichen Rentenversicherung statt bisheriger Ausnahmenregelungen sei verfassungsrechtlich nach Artikel 3 Grundgesetz zulässig, stellt er dort fest. Außerdem kommt er zu dem Schluss, dass eine allgemeine Rentenversicherungspflicht nicht nur zur Finanzierbarkeit der Rentenversicherung und zur Vermeidung unangemessener Belastungen für die Allgemeinheit, sondern auch zur Verbesserung der sozialen Lage der Selbstständigen beitrage. Selbst aus ökonomischer Sicht mache das Vorhaben Sinn und stärke die Wettbewerbsfähigkeit. Wenn künftig Altersvorsorgekosten von (Solo-)Selbstständigen in die Honorarkalkulation eingepreist werden müssten, führe das perspektivisch zu einer Annäherung der Kosten abhängiger und selbstständiger Beschäftigung. Outsourcing und Zwang zu Selbstständigkeit dürften so unattraktiver werden.
Fragmentierung, Statusfragen und politische Aufgaben
Von „sehr viel Zuspruch“, (Solo-)Selbstständige mit in die Rentenversicherung einzubeziehen, sprach Rentenversicherungs-Präsidentin Gundula Roßbach. Deutschland sei das einzige Land in Europa, dass noch keine reguläre Absicherung für diese Erwerbstätigen habe. Wie nötig sie sei, zeige sich auch daran, dass Selbstständige hierzulande ein doppelt so hohes Risiko als Angestellte hätten, im Alter in der Grundsicherung zu landen.
Gleichwohl sei es für den Gesetzgeber schwierig, eine adäquate Regelung zu schaffen, räumte Bundessozialgerichtspräsident Rainer Schlegel ein. Müsse es tatsächlich eine Rentenversicherungspflicht geben? Die geplante Opt-Out-Regelung stelle dazu eigentlich einen Widerspruch dar. Dass die geplante Neuregelung im Zusammenhang mit dem sogenannten Rentenpaket II – der Stabilisierung des Rentenniveaus durch Neuanpassung der Renten- an die Einkommensentwicklung – zu sehen sei, erläuterte Staatssekretär Rolf Schmachtenberg. Er stellte in Aussicht, dass die Einbeziehung Selbstständiger in die Rentenversicherung weitgehend digital erfolgen solle, was die Umsetzung vereinfache.
Auf die Schwierigkeit der „fragmentierten Erwerbsbiografien“, die Problematik häufiger Wechsel zwischen abhängiger und selbstständiger Tätigkeit sowie hybrider Arbeit machte Roßbach aufmerksam. So könne es dazu kommen, dass „jemand 40 Jahre lang viel gearbeitet hat, aber am Ende wenig Rente herausbekommt“.
Dennoch sei die gesetzliche Rentenversicherungspflicht für Selbstständige ein „gutes Vorhaben“, man solle „den Mut haben, das jetzt zu tun“, mahnte Jurist Ulber. Allerdings – so räumte er auf die Frage von dju-Bundesvorstandsmitglied Renate Gensch ein, könne die Rentenversicherung grundsätzlich nur leisten, was vorher an Beiträgen eingezahlt worden sei. Das Problem nicht-auskömmlicher Einnahmen durch Dumpinghonorare könne so nicht gelöst werden.
Prekäre Selbstständigkeit wie bei Essenslieferanten oder in der Paketzustellung – so zeige es seine gerichtliche Erfahrung – bedeute eigentlich verkappte abhängige Beschäftigung, so Prof. Schlegel. Da müssten politische Lösungen her. Besonders „skandalös“ seien Outsourcing-Auswüchse bei den Rundfunkanstalten: „Wo öffentlich-rechtlich draufsteht, muss etwas mehr Moral eingefordert werden“, verlangte er.
Stellschraube: Einkommensabhängige Beiträge
Fragen aus dem Publikum betrafen auch die vorgesehene Opt-out-Regelung, die Problematik, wie künftig Rechtssicherheit in Statusfragen hergestellt werden oder wie die Einstiegsbelastung bei Beitragszahlungen für Selbstständige erträglich gehalten werden könnten. Redner*innen aus dem Plenum schilderten die Vielfalt selbständiger Erwerbsmodelle, die mittlerweile auch Genossenschaften einschließe. Eine bildende Künstlerin und der Vertreter eines gemeinnützigen Vereins beklagten, dass sie durch Abhängigkeit von öffentlicher Förderung gar nicht in der Lage seien, „Marktpreise“ mitzugestalten oder gar in die Höhe zu treiben. Erörtert wurde auf Nachfrage auch, ob perspektivisch jede/r Selbstständige seine Beiträge selbst einzahlen müsse. Es gäbe bei der Deutschen Rentenversicherung „Vorüberlegungen, wie das digital umzusetzen sei“, so Gundula Roßbach. Sie zeigte sich überzeugt, dass eine Kopplung mit den Steuerbehörden nötig sein werde; Stellschraube seien in jedem Fall „einkommensabhängige Beiträge“.
„Das Ziel ist gut, die Umsetzung wird schwierig, der Widerstand ist groß“, so das Fazit von Prof. Rainer Schlegel. Staatssekretär Dr. Rolf Schmachtenberg dankte für zahlreiche Anregungen aus dem Forum und wünschte sich weiteren intensiven Dialog: „Der Gesetzentwurf wird besser durch konstruktiv-kritische Begleitung.“
Einladung zu Interessenvertretung und Vernetzung
Vor der Podiumsdiskussion hatten Dr. Pauline Bader und Mika Wodke von der Berliner Anlaufstelle des Hauses der Selbstständigen an alle (Solo-)Selbstständigen die Einladung ausgesprochen, die neuen Angebote zu Qualifizierung, kollektiver Beratung und Vernetzung aktiv zu nutzen. Sie richteten sich an das gesamte Spektrum Selbstständiger mit den Schwerpunkten Honorierung, soziale Absicherung und kollektive Interessenvertretung.
Die Anlaufstelle befindet sich aktuell in den Räumen des ver.di-Landesbezirks Berlin-Brandenburg in der Köpenicker Straße und soll im November mit nach Westend umziehen. Noch in diesem Jahr will das HDS für verstärkte bundesweite Aktivitäten auch Beratungsstellen in Nordrhein-Westfalen und Hamburg eröffnen.
Zentrales Ziel der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und dem Europäischen Sozialfonds (ESF Plus) geförderten Einrichtungen bleibe die Stärkung von Interessenvertretungen Solo-Selbstständiger.