ver.di steht für sozial-gerechten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft
Kritisch, diskutierfreudig, kollegial, berührend, kraftvoll – das sind Adjektive, die sowohl die Stimmung als auch die Aussagen des 5. Ordentlichen Bundeskongresses von ver.di in Leipzig beschreiben. Etwa 1.000 Delegierte suchten an sieben Tagen nach zukunftsgerechten Antworten auf die aktuellen Fragen der Zeit. Sie wählten einen neuen Bundesvorstand und Gewerkschaftsrat, wiesen mit anspruchsvollen Beschlüssen der zweitgrößten Gewerkschaft Deutschlands den Weg für die nächsten vier Jahre.
„Wir wollen Gute Arbeit für alle Beschäftigten“, betonte der mit 92, 7 Prozent gewählte neue ver.di-Vorsitzende Frank Werneke in seiner Grundsatzrede. Es gelte, eine ökologische Katastrophe abzuwenden. Dafür brauche es einen massiven Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, der sozial gerecht und solidarisch sein müsse. Dazu gehöre die Digitalisierung – der technologische Wandel, der sich in allen Branchen bereits vollziehe. Dafür werde sich ver.di als politische Gewerkschaft einsetzen – „und das machen wir gemeinsam“, rief Werneke den Delegierten zu. Denn entscheidend sei die Stärke und die Durchsetzungsfähigkeit von ver.di. Das gelte vor allem für die Tarifpolitik. „Nur noch jeder zweite Arbeitsplatz in unserem Land ist durch Tarifverträge geschützt. Tendenz fallend“, sagte er. Im Osten Deutschlands seien es in der Privatwirtschaft nur noch ungefähr 20 Prozent aller Arbeitsplätze. Es gibt aktuell, von ver.di ausgehandelt, über 22.600 gültige Tarifverträge. Auch wenn ver.di durch die Weiterentwicklung der kollektiven Arbeit in den Betrieben und der Tarifpolitik in den vergangenen vier Jahren an Tarifmächtigkeit zugelegt habe, gebe es „noch Luft nach oben“. Ziel sei es, in Betrieben, Einrichtungen und Verwaltungen wieder stärker zu werden, Mitglieder zu gewinnen. „Das muss unser Maßstab für alle Veränderungen in ver.di sein“, erklärte Werneke auch mit Blick auf den innerorganisatorischen Veränderungsprozess „Perspektive“, den ver.di in den nächsten Jahren mit der fast kompletten Neuaufstellung aller Fachbereiche vor sich habe.
Gegen „Zergliederitis“
Der Gewerkschaftsvorsitzende formulierte Forderungen an die Politik: So die Änderung des Tarifvertragsgesetzes. „Die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen darf nicht länger an dem faktisch gegebenen Vetorecht der Arbeitgeberverbände scheitern.“ Das betreffe vor allem den Einzelhandel. Da „eine ganze Reihe von Branchen an akuter Zergliederitis“ leiden, fordert ver.di, dass bei Ausgründungen und Betriebsübergängen ein bestehender Tarifvertrag nur noch durch einen neuen ersetzt werden dürfe, nicht durch individuelle Verträge. „Tarifvertrag first“, laute die Botschaft. Aufträge von Bund, Ländern und Kommunen sowie öffentlichen Unternehmen dürften nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden. Zudem gehörten Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung abgeschafft. Verbänden, deren Mitgliedermehrheit nicht mehr tarifgebunden ist, sollte der Status als Arbeitgeberverband abgesprochen werden. Gegen den Trend der Privatisierung und Liberalisierung vieler Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge sagte Werneke: „Wir wollen die Altenpflege und Krankenversorgung der Verwertungslogik des Kapitals wieder entziehen. Gemeinwohl statt Profite auf Kosten der pflegenden Menschen und zu Lasten der Beschäftigten.“
Befristungen abschaffen
Prekäre Beschäftigung, etwa durch sachgrundlose Befristungen, zu bekämpfen, steht ebenfalls auf der gewerkschaftlichen Agenda. Jüngsten Arbeitsmarktzahlen zufolge, sind bei Neueinstellungen vier von zehn Arbeitsverträgen befristet. Ein unhaltbarer Zustand. Der allgemeine gesetzliche Mindestlohn, dessen Durchsetzung ver.di als politischen Erfolg verbucht, soll noch in dieser Legislaturperiode auf 12 Euro und dann weiter ansteigen – „und zwar ohne jede Ausnahme“, so Werneke.
Im Zusammenhang mit der Rente als „Spiegelbild des Erwerbslebens“, sprach er sich Werneke für eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung aus und sicherte dem Bundesarbeitsminister die Unterstützung von ver.di zu. „Und es braucht endlich einen konkreten Fahrplan für die Schaffung einer Rentenversicherung, die tatsächlich eine Erwerbstätigenversicherung ist. Eine Versicherung, in die alle einzahlen und von der am Ende alle profitieren. Auch Selbstständige, und zwar inklusive einer Auftraggeber-Beteiligung“, erklärte der neue Vorsitzende unter lebhaftem Beifall.
„Auf gute Zusammenarbeit“, rief dann auch Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) enthusiastisch dem Kongress zu. Auf seinen Reisen habe er ein Land der Widersprüche vorgefunden: Auf der eine Seite eine bessere Situation auf dem Arbeitsmarkt. Auf der anderen Menschen, die sich Sorgen um ihre Zukunft machen, fragen, wie es weitergeht in einer Welt, in der sich beschleunigt vieles ändert. „Und wir erleben auch, dass politische Scharlatane diese Ängste schüren, die Gesellschaft spalten und daraus ein politisches Geschäftsmodell gemacht haben.“ Deshalb müssten Politik und Gewerkschaften Chancen und Schutz in Zeiten des Wandels organisieren. Das sei das beste Mittel, um „diesen rechtsradikalen Brüdern den Boden zu entziehen“.
Der Minister verwies auf eine Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, wonach in den kommenden sechs Jahren 1,3 Millionen Jobs durch die Digitalisierung allein in Deutschland wegfallen. Gleichzeitig sollen aber 2,1 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Diesen Strukturwandel gelte es gemeinsam mit den Gewerkschaften zu gestalten, ohne dass es zu Strukturbrüchen komme. Er kämpfe für eine Grundrente, „die nicht das Ergebnis von Bedürftigkeit, sondern der Lohn für ein Leben voller Arbeit“ sei, versicherte Heil. Zu den weiteren Themen, die er angehen wolle, zählte er den Fachkräftemangel in der Pflege, ein Tariftreuegesetz für den Bund und die sachgrundlosen Befristungen. Letztere bezeichnete er als Willkür. Dabei gab er selbstkritisch zu, dass auch der Bund mit einer hohen Zahl an sachgrundlos befristet Beschäftigten kein gutes Vorbild sei.
Leitbild Gute Arbeit
Mehr als 1.000 Anträge, unter anderem zu Tarifpolitik, Sozial-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik und zur Jugendarbeit, lagen den Delegierten zur Beratung vor. Knapp 100 davon konnten trotz einer Marathondebatte am 29. September bis 23 Uhr nur noch an den Gewerkschaftsrat überwiesen werden. Dazu gehört auch der Medienpolitische Leitantrag, der ver.di auffordert, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zukunftsfest zu machen, die Pressefreiheit zu verteidigen, publizistische Vielfalt und Qualitätsjournalismus zu fördern, die Urheberrechte zu stärken und sich für gleiche Chancen von Künstlerinnen und Medienfrauen einzusetzen. Nicht gehaltene Redebeiträge fallen nicht weg, die Delegierten können sie bis 31. Oktober beim Gewerkschaftsrat einreichen.
Gute Arbeit bleibt das Leitbild von ver.di, wie es im ersten beschlossenen Leitantrag des Bundeskongresses umfassend fixiert wurde. Deshalb kämpft ver.di unter anderem für die Verteidigung und Rückeroberung von Flächen- bzw. Branchentarifverträgen, die Anhebung des Mindestlohnes, die Ausweitung der Tarifbindung sowie ein echtes Entgeltgleichheitsgesetz auch im Privatsektor; sowie für mehr Mitbestimmung in den Unternehmen. Kritisch gesehen wurde von vielen Delegierten der Part um die Leiharbeit. Frank Werneke hatte dafür plädiert, dass Leiharbeitnehmer*innen gleichen Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen vom ersten Tag und dann zusätzlich einen Flexibilisierungszuschlag erhalten. Ein Änderungsantrag ging jedoch weiter. Die Leiharbeit gehöre abgeschafft, da sie die Belegschaften spalte, war die Forderung. ver.di organisiere viele Leiharbeiter* innen, für deren bessere Arbeitsbedingungen man eintreten müsse, lautete ein Gegenargument. Am Ende ein Kompromiss: ver.di setze sich dafür ein, das es „langfristig“ eine Gesetzesänderung gebe, die Leiharbeit „abschafft“.
„Nachhaltige Wirtschaft und aktiver Staat“ standen im Fokus eines Leitantrages des Gewerkschaftsrates. Einigkeit herrschte darüber: „Die fortschreitende Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen muss gestoppt werden.“ Die Details, wie das zu bewerkstelligen sei, führten zu einer ausführlichen, teilweise heftigen Debatte. An erster Stelle wurde die Forderung nach einer entschiedenen Ausweitung der öffentlichen und sozialen Dienstleistungen im sozial-ökologischen Sinn benannt. Der Kohleausstieg müsse sozialverträglich gestaltet werden. Das heißt, die vom Ausstieg aus der Kohleverstromung betroffenen Beschäftigten in den Stein- und Braunkohlekraftwerken und in Tagebauen müssten umfassend abgesichert werden. Strom, Wärme und Mobilität sollten „auch für Geringverdiener erschwinglich bleiben“. Die Kosten des ökologischen Umbaus müssten „gerecht verteilt werden“. Vor allem die ver.di-Jugend votierte energisch dafür, dass sich der Bundeskongress „gegen die geplante Rodung des Hambacher Forsts sowie die generelle Zerstörung von Dörfern und Natur für den Braunkohleabbau“ ausspreche. Die erforderlichen Investitionen für den sozial-ökologischen Umbau sollten aus staatlichen Einnahmen über eine gerechtere Steuerpolitik geschöpft werden. Mit großer Mehrheit und unter dem Jubel der Jugend wurde der Antrag angenommen.
Geschlossen gegen rechts
Solidarität und Respekt gegenüber allen Menschen – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, Alter und Hautfarbe, ist eine weitere Maxime von ver.di. Deshalb wurde beschlossen, gemeinsam für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller zu kämpfen. ver.di stellt sich Nationalismus, Rechtspopulismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit entgegen und beteiligt sich aktiv an Bündnissen und Protesten gegen Aktivitäten rechtspopulistischer und rechtsextremer Organisationen und Parteien. Personen, die in solchen Parteien oder Organisationen aktiv sind und sich menschenverachtend oder gewerkschaftsfeindlich äußern, schließt ver.di im Rahmen der satzungsrechtlichen Möglichkeiten von der Mitgliedschaft aus.
Für ver.di ist das Grundrecht auf Asyl unantastbar. Das gilt auch für die Einhaltung der UN-Flüchtlingskonvention. Die Kriminalisierung ziviler Seenotrettung muss ein Ende finden. Grundsätzlich wurde Krieg als Mittel der Politik abgelehnt. Deshalb engagiert sich ver.di in gesellschaftlichen Bündnissen für Abrüstung, wie dem Aufruf „Abrüsten statt aufrüsten“, und will Rüstungsexporten verhindern. Dazu gehöret auch die gewerkschaftliche Forderung, dass die Bundesregierung den UNO-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen unterzeichnet, wie das schon etwa 130 Staaten getan haben.
Für starke Öffentlich-Rechtliche
Mit einer Resolution hat sich der ver.di-Bundeskongress hinter die Beschäftigten bei ARD, ZDF und Deutschlandradio gestellt, die sich derzeit in Tarifauseinandersetzungen befinden (siehe S. 29/30). Man werde es nicht akzeptieren, heißt es in der Solidaritätserklärung, „dass die Intendantinnen und Intendanten die Beschäftigten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von der Lohnentwicklung – sowohl im öffentlichen Dienst als auch von der allgemeinen Lohnentwicklung – abkoppeln wollen“. Der „knallharte Sparkurs“ gehe an die Grenzen der Belastbarkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Angesichts eines durch Facebook, Twitter und Co. zunehmend verrohenden öffentlichen Diskurses wachse die Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Sender als „Leuchttürme seriöser Information“ und als Produzenten von Analysen und Meinungen.
Wahlergebnisse
Gewerkschaftsrat
Der Kongress wählte den Gewerkschaftsrat, das höchste ver.di-Gremium zwischen den Kongressen. Er berief Martina Rößmann-Wolf als Vorsitzende. Den Bereich Medien vertreten Manfred Kloiber und Peter Freitag (Stellvertreter).
Bundesvorstand
ver.di-Vorsitzender Frank Werneke 92,7 Prozent.
Stellvertreterinnen:
Andrea Kocsis, Vertreterin für Fachbereich Postdienste, Speditionen und Logistik
91,5 Prozent.
Christine Behle, Vertreterin für die Fachbereiche Sozialversicherung, Bund/Länder, Gemeinden, Verkehr und
besondere Dienstleistungen
91,1 Prozent.
Weitere Vorstandsmitglieder wurden Karin Hesse (80,8 Prozent), Dagmar König
(77,2 Prozent) und Christoph Meister (89,6 Prozent).
Das Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler ist Vertreterin der Fachbereiche
Gesundheit und Bildung/Wissenschaft (91,7 Prozent). Stefanie Nutzenberger vertritt den Fachbereich Handel (61,6 Prozent).
Überwältigende Zustimmung und viel Applaus gab es für Christoph Schmitz, der als Mitglied im Bundesvorstand künftig die Fachbereiche Banken/Versicherungen, Ver- und Entsorgung, Medien/Kunst/Industrie und Telekom in seiner Verantwortung hat. Für ihn votierten 96,6 Prozent der Delegierten.
Kunst- und Kulturbeauftragte
Einstimmig bestätigten die Delegierten Dr. Anja Bossen als neue Kunst- und Kulturbeauftragte von ver.di.
Die Musikerin und Instrumentalpädagogin war von den Kunstfachgruppen der Gewerkschaft als Kandidatin
für das Amt gewählt und dem Kongress vorgeschlagen worden.
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Die Resolution zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk unter: rundfunk.verdi.de